Vor einem Jahr & alle fünf Minuten


Eine Warnung vorweg: Ich gedenke, hier vor mich hinzunölen, wie es mir gerade einfällt. Entweder klickt die nicht geneigte Leserin jetzt weg oder sie holt sich ein Heißgetränk und macht es sich bequem …

Es ist ziemlich genau ein Jahr her, da lief ich an einem heißen Sonntag mit dem Großen und den Hunden aufgebracht durch die Derle. Das ist ein wäldliches Naherholungsgebiet wenige Meter von hier, in dem so ziemlich jeder grillt und seinen Dreck rücksichtslos verteilen kann – insofern ist die Derle vielleicht ein passendes Gleichnis zu unserer Welt, wie ich sie gerade sehe: Eigentlich sehr schön und in der Theorie ein Traum, jedoch richten die widerwärtigsten Widerlinge eine solche Sauerei an, dass man lieber woanders wäre und sich zwischen Wut und Hilflosigkeit ergeht.

Ich lief deshalb aufgebracht durch die Derle, weil der Gatte und ich heftigst gestritten hatten und der Anlass dazu ein nichtiger war. Am Ende dieses Spazierganges war ich noch immer voller Ärger und der Sohn bemühte sich, mich abzulenken – was ungewöhnlich ist, denn dieses Kind ist ansonsten derjenige, der uns alle in anderthalb Sekunden unter die Decke jagt. Er kam auf seltsamen Wegen auf Filme und dann auf Geschichten, die ich doch mal schreiben wollte. Ich könnte ja mal etwas schreiben, worin eine sich ritzende Detektivin nach Jahren in einer Klinik wieder ihr normales Leben aufnimmt und nun den Mörder ihrer Schwester jagt – den bösen Schwager.

Es war eine hochkomplizierte Story, die der Sohn da entwickelte, und ich begann mich zu fragen, wie schlimm er den Streit wohl gefunden haben mochte, dass ihm ermordete Ehefrauen in den Sinn kamen. Aber gleichzeitig fiel mir etwas ganz anderes ein, nämlich meine Emma. Meine Heldin eines (!) Krimis, die in den Zwanziger Jahren in Bonn ermittelt. Und die mich seit gut zehn Jahren begleitete. Einmal im Jahr schrieb ich zwei oder drei Sätze, ein Mal sogar zwei Kapitel, die ich der Freundin zu lesen gab und die seitdem ebenso einmal im Jahr drängte, ich solle endlich beginnen, das werde gut.

Aber ich fand Emma zu banal, sie war viel zu sehr das, was man aus den englischen Bücher kennt, die in derselben Zeit spielen: Immer wahnsinnig gut drauf, unglaublich begabt, megamutig und unerschrocken, umwerfend schön und viel klüger als die Polizei. Außerdem alterslos, denn in manchen Serien sind es 33 Bände, die allesamt nicht über das Jahr 1926 hinaus kommen – eine ewig währende Party voller Lords und Luxus. Was sich zwar nett wegliest, aber irgendwann auch nervte. Mich zumindest. Das wollte ich nicht.

Und dank des Streits und den Ideen des Sohnes wusste ich es dann: Meine Emma ist schüchtern und darf sich entwickeln. Sie darf beides kennen – den (bescheidenen) Luxus und das harte Leben. Und sie muss durch eine persönliche Geschichte überhaupt erst in all das hineinkommen. Es muss eine Serie sein und sie darf vorwärts schreiten. Ja, all das notierte ich mir und am nächsten Tag fing ich an. Noch gar nicht im Klaren darüber, was ich damit anfangen will. Noch nicht einmal überzeugt, ich würde dieses Mal mehr als zehn Zeilen füllen. Aber es lief und floss und alle Überlegungen, die mich umtrieben, lösten sich von selbst. Ich bin ungeduldig, ich gebe nicht gern etwas aus der Hand, ich bringe mir gerne etwas bei, ich bin nicht gerne allzu sichtbar, ich kann nicht gut in eigener Sache verhandeln – also kam für mich eine Suche nach Agentur und Verlag nicht in Frage. Heimlich, still und leise wollte ich meine Emma bei amazon veröffentlichen, es hier einige Male erwähnen und irgendwie hoffen, dass es nur wenige lesen, die sicher wären, es zu mögen. Alles sehr ambivalent, was in mir vorging.

Zu meiner Überraschung drängte es mich weiter und weiter und weiter. Es war, als hätte man ein gärendes Fass angestochen. In einem Jahr habe ich nun über eine halbe Million Wörter veröffentlicht, wozu ich täglich etwa 1.600 von ihnen zu schreiben hatte – das höchste, was ich an einem Tag tippte, waren 9.800 irgendwas. Schnell und viel ist also kein Problem, aber das war es für mich noch nie. Viel wichtiger ist mir: Ich hätte mir das nicht zugetraut und insofern müsste ich doch jetzt hier stehen und mich großartig fühlen. Oder?

Wenn ich schreibe oder der Freundin vorlese oder dem Gatten oder eine Rückmeldung einer Leserin (auch männlicher Leserinnen, was mich doch immer sehr freut, zumal der Tenor dahin geht, auch meine Männer seien gut getroffen), dann fühle ich mich auch großartig. Ich bin woanders, kann eine Welt ein wenig gerechter gestalten, kann mich wegdenken.

Und dieses Wegdenken, das brauche ich mittlerweile. Ich kann diese Welt wirklich nicht verstehen. Es vergehen im Grunde keine fünf Minuten am Tag, in denen ich nicht einmal darauf gestossen werde, warum ich mich so gedrängt und gehetzt fühle. Ich würde auch in einer hoffnungsfroheren Welt schnell und viel schreiben und dafür das Bloggen, das Nähen, das Stricken vernachlässigen. Oder den dämlichen Haushalt! Aber ich hätte nicht das Gefühl, noch schnell etwas schaffen zu wollen, bevor es nicht mehr geht.

Bevor es auch zwei Gründen nicht mehr geht: Weil meine Romane (noch) in der Weimarer Republik spielen und ich in ihnen nicht ausblende, was real in diesen Tagen geschah. Und weil mein – sanfter – Fokus auf Emanzipation und Kritik an rechtsradikalem Gedankengut vielleicht schon bald nicht mehr so harmlos sein könnten. Wir gehen in solch Riesenschritten zurück, ich kann so schnell gar nicht mithalten.

Nun kann es sein, dass ich zum Einen wieder einmal in einer leicht depressiven Phase bin und alles schrecklich schwarz sehe, wo es doch nicht mehr als freundlich-anthrazith ist. Möglich, möglich, möglich. Ich habe dreimal minderschwere Depressionen durchlitten, kenne die Anzeichen und bin auch da jemand, der sich nicht gerne helfen lässt und ganz gut damit dealt. Aber dieses Mal?

Ich bin in der letzten Zeit dazu übergegangen, immer mal wieder ganz besonders liebe und aufrechte Menschen auf facebook stummzuschalten, weil ich all die Realitäten nicht mehr ertragen kann. Gestern sah ich mir das Video einer österreichischen Freundin an. Danach war ich down. Es war eine Rede im österreichischen Parlament. Und nicht der Inhalt allein war es, das, worum der Redner verzweifelt rang, sondern das widerliche Grinsen des Bubis Kurz, der daneben saß und deutlicher gar nicht hätte zeigen können, was er will und was ihn interessiert. Gier und Eigennutz sind ihm ins Gesicht gemeißelt. Ebenso, wie es Spahn und Söder und Seehofer unverdeckt vor sich hertragen.

Das sind für mich Menschen, die charakterlich dermaßen ungeeignet für JEDES Amt sind, dass ich nicht begreifen kann, wie sie dorthin gelangt sind und weshalb es nichts gibt, was wir dagegen tun können. Und es entsetzt mich – auch hier unabhängig davon, welche politische Meinung jemand vertreten mag, darüber müsste man streiten und sich einigen können nach all den Jahrtausenden der Menschheitserfahrung! – wie wenig sich manche Menschen an dieser Kaltschnäuzigkeit, an dem kalten Egoismus stören. Da ist ja so gerne von kulturellen Werten die Rede … Verdammt noch eins, wer nicht einmal in der Lage ist, dem nach ihm Kommenden die Türe offen zu halten, der sollte von derlei nicht reden. Mit Verlaub, es kotzt mich an, wie miteinander umgegangen wird. Wie selten Autofahrer an einem Zebrastreifen halten, wie wenige hinzuspringen, wenn ein kleines Kind fällt und die Eltern nicht schnell genug heraneilen können, und wie unfreundlich grundsätzlich miteinander gesprochen wird. Wenn überhaupt.

Aber dann – mir fehlt längst die Kraft, mich einzumischen. Zumal sich das dann auch persönlich ungut bemerkbar macht. Ein stramm Ultrarechter fühlte sich von meinen Worten auf facebook beleidigt und zahlte es mir mit einer Ein-Sterne-Rezension heim. Soll er, alles gut, alles fein. Aber das solche Methoden längst gang und gäbe sind, dass, wer auch nur Menschlichkeit erbittet, stattdessen Nachrichten mit Morddrohungen erhält – das führt zu keinem guten Ende. Sehe ich zu schwarz? Das hoffe ich sehr, ich lasse mich da gerne eines Besseren belehren. Für mich ist der nächste Meilenstein die Wahl in der Türkei. Wenn es dort gelingt, Erdogan abzuwählen, dann blicke ich ein klein wenig hoffnungsvoller nach vorne. Glaube ich daran? Tja …

Dazu kommen all die anderen Dinge, die mich so begleiten: Die gottverdammten Wechseljahre sind noch immer nicht durch und nein, ich nehme noch immer keine Hormone und man kann noch immer nicht wirklich etwas tun. Drei Monate bin ich regelfrei und blühe auf und dann kommen sie sechsmal hintereinander alle zwei Wochen und ich glaube, zu sterben. Seit fünf Jahren geht das so und das trägt wenig dazu bei, unsere Welt als lebenswert zu empfinden. Alles ganz schön düster und bitter bis hierhin, oder? Aber gleichzeitig setzt bei mir eine Egal-Haltung ein, die sich echter und besser anfühlte, hätte ich keine Kinder, um deren Zukunft ich mich sorge. Beide sind rundum ätzend während eines Großteil des Tages, streitende und zickige Fast-Teenager, die nicht wissen, wohin mit ihrem Testosteron. Woher auch? Wenn Trump und Kurz und Erdogan und wie sie nicht alle heißen, was sie damit anfangen können, woher dann zwei Jungspunde?

Was mich so niederdrückt, ist vor allem das Gefühl der Hilflosigkeit der Mehrheit gegenüber einer fast schon krankhaft niederträchtigen Minderheit, die sich an jedem bösen Wort, an jeder unmenschlichen Tat in Schadenfreude ergeht. Und doch will ein Teil von mir – wahrscheinlich die Prinzessin im silbernen Kleid – daran festhalten, dass sich alles bald wieder wandelt, das alles wieder gut wird. Deshalb wohl kam nicht nur Emma in meine Welt, sondern auch Lily, die ich die Zwanziger unbeschwerter und lustiger erleben lasse. Die eine märchenhafte Wirbelwindromanze erhalten hat und ein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Und als eine Freundin mir schrieb, an ihr hätte sie besonderes Vergnügen gehabt, weil sie an Tucholsky und Kästner habe denken müssen, da war die Welt wieder ganz hell und licht. Wer von euch also zögert, sich dem Schreiben hinzugeben, der sollte jetzt mal loslegen, es reinigt und klärt die Gedanken.

So, das war es von hier. Nicht so lustig, nicht so schön. Aber vielleicht kommt das ja demnächst alles zurück. Ich sehe zu schwarz und jetzt kommt rosa. Irgendwie so …