Swanhild, die Blutige

Seit wenigen Wochen steht Anastasius Olivero an der Spitze des Instituts für Fantastik und endlich darf er seine dritte Mitarbeiterin abholen: die Vampira Swanhild.
Und deren Fähigkeiten werden schon bald benötigt, denn noch immer sind ein Mord aufzuklären, ein unbekannter Dämon und seine Komplizinnen zu entdecken und die Welt vor Krieg zu bewahren. Aufgaben, die nur gemeinsam zu bewältigen sind. Die Zeit drängt …

Wie wäre es mit dem ersten Kapitel, in dem Anastasius uns auf den letzten Stand bringt?

Professor Olivero


Ich wusste, wir sehen uns wieder. So eigenartig es auch ist, wie wir über unsere Welten hinweg miteinander in Kontakt stehen, es geschieht. Und ich muss sagen, es tut mir wohl, einmal mit jemandem wie Ihnen sprechen zu können. Es ist beinahe wie ein Selbstgespräch, nur komme ich mir kein bisschen lächerlich vor, wenn ich von meinen Sorgen und Befürchtungen spreche; ja, Ihre Gegenwart scheint mir Klarheit zu verschaffen. Verstehen Sie? Während ich Ihnen erzähle, was mich beschäftigt, komme ich auf neue Ideen, wie meine Probleme zu lösen sein könnten.
Sie erinnern sich der langen Liste, die die Ordnenden Mächte mir als Arbeitsanweisung sandten? Oder vielmehr eine Zusammenfassung der Punkte, die ich während meines ersten Jahres als Institutsleiter besonders im Auge haben sollte:

Verbesserung der Gesundheitsvorsorge insbesondere in den ländlichen Gebieten, ebenso Verbesserung der Schulbildung und Sprachkenntnisse.
Bekämpfung des organisierten Verbrechens, Ausmerzung der unverbesserlichen Kriminellen.
Rettung der acht verbrannten Hexen und Beilegung des Streits zwischen Elisabeth I. und Mary Stuart.

Alles sehr wichtige Aufgaben, ohne jede Frage. Aber wesentlich dringlicher ist doch die Verhinderung eines Weltkrieges, wie er nun bei Ihnen tobt. Das wird nicht leicht werden, denn wenn meine Welt auch wesentlich friedlicher, gerechter und – ja, das muss ich leider sagen – vernünftiger ist als die Ihre, so sehe ich deutlich, dass wir gefährdeter sind denn je, Ihre Fehler zu wiederholen.
Sie nicken, natürlich, Sie verstehen mich, wir hatten ja bereits ausführlich über die Unterschiede gesprochen; ich will Sie keinesfalls mit den immer selben Details langweilen. Verzeihen Sie mir meine Geschwätzigkeit.
Nun also, zu den oben genannten Aufträgen kommt unbedingt die Vermeidung dieses Krieges. Dazu werden wir uns dem Thronfolger Franz Ferdinand widmen müssen: Entweder muss er ein besserer Mensch werden oder aber wir müssen dafür sorgen, dass er zurücktritt und Platz macht für den Sohn des Kaisers.
Gut, der Plan hat seine Schwächen, denn zum einen hat Rudolf vor Jahren bereits abgedankt und zum anderen ist Franz Ferdinand ein Mann, der mir und fast allen Menschen, die ihn kennen, zutiefst unsympathisch ist; das zu ändern, dürfte außerhalb unserer Macht liegen. Hinderlich ist außerdem, dass ausgerechnet nun die Magische Quelle in Österreich kontaminiert ist und wir nicht rasch reagieren können, wenn es nottut.
Womit wir schon bei den Rätseln sind, die wir lösen müssen: Die Metamorpha Insabeau von Isselheim, die Dunkelste Welt, Sébastien Antoine Bellefort und Sören Axel Borjeson, der Mord am russischen Institutsleiter Testow durch seinen Agenten Kasparow und das Herannahen der Kosmischen Welle – all dies sind die Dinge, die unsere Aufmerksamkeit erfordern. Unsere ungeteilte Aufmerksamkeit und all unsere Anstrengung!
Hexen, Drachen, ungesicherte Zugänge zu einer fremden – uns vollkommen unbekannten! – Welt, Mord, die Schwäche der Zwölf, das Zaudern der Ordnenden Mächte und die Entdeckung, dass diese die Gestaltwandler im Grunde wie das Urböse an sich behandeln: Ich gestehe, wenn ich des Nachts nicht schlafen kann – und das kam oft vor in den letzten zwölf Tagen! – dann schaue ich mit Besorgnis auf die vor uns liegenden Aufgaben.
Wie sagt Fräulein Fortunati: Noch kaum ein Leiter vor mir stand zu Beginn seiner Amtszeit so sehr in der Pflicht! Und ich kann Ihnen nicht verhehlen, für wie wenig geeignet ich mich in diesen düsteren Stunden halte, all das zu bewältigen. Ich frage mich in einem fort, weshalb ich erwählt wurde. Ich bin doch noch recht unerfahren in allen Angelegenheiten der großen Welt, hatte außerdem allzu romantische Vorstellungen von meiner Zukunft und – nun ja, ich war auch leicht zu beeindrucken von jedem weiblichen Wesen, das meinen Weg kreuzte.
Ja, sagen Sie nichts, lachen Sie über mich, nennen Sie mich einen Narren und Schlimmeres; geschenkt. Ich hatte Sehnsucht nach etwas, das ich von meinen Eltern nicht bekam. Aber das hat sich geändert. Denn ich habe mich verliebt und das mit jedem Zoll meines Körpers, mit dem Verstand, der Seele und dem Herzen. Ich schwärme überschwänglich, ich verehre ehrfürchtig, ich huldige andächtig, ich erbebe leidenschaftlich, ich liebe in tiefem Ernst und mit größter Freude, ich …
Ja, lachen Sie mich aus, nennen Sie mich kindisch und irre, Sie haben ja recht. Da behaupte ich, ich sei kein romantischer Narr mehr und dann rede ich daher wie … wie ein verliebter Poet, ein alter Mann und ein dummer Schuljunge! Aber Sie irren sich doch, denn dies ist keine Spielerei, da sind keine Einbildung und kein Herbeireden. Ich habe die Frau meines Lebens gefunden. Ohne jeden Zweifel.
Melisande natürlich. Sie ist die Antwort auf all mein Sehnen und Suchen und glauben Sie mir, Sie macht einen besseren und klügeren Mann aus mir! Lachen Sie nur weiterhin, ich bin ja Ihrer Meinung, denn da hat die arme Frau viel zu tun. Aber ihre Wärme, ihr Temperament, ihr Witz, ihre Talente, ihr –
Oh, ich schweige schon, ich kann mir denken, wie lästig ein verliebter Mann fallen muss. Doch glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage: Nun endlich weiß ich, was Liebe ist.
Wenn Sie wüssten, wie ich sie vermisse: Melisande Meyerbrinck, Fee von Avalon, Angestellte des Instituts für Fantastik und – vor allem anderen – die Frau, die mich küsst. Gelegentlich. Meine Liebe zu ihr ist ideal, perfekt, unübertroffen, wunderbar, herrlich – wie sie selbst eben auch. Wie sie geht und wie sie spricht, wie sie ihre Meinung sagt, sich nicht scheut, mit mir zu streiten, wie sie –
Wo sie ist? Nun, sie ist vor fünf Tagen in Wien eingetroffen und hofft darauf, bald auf Franz Ferdinand, Rudolf oder den Kaiser einwirken zu können, doch bis jetzt sieht sie nur die Kaiserin von morgens bis abends, die nicht genug von Melisande bekommen kann. Wie ich das verstehe! Mit ihr den Tag verbringen zu können, über nichts anderes plaudern zu müssen als über die Schönheit der Natur, die Kraft der Farben und die Liebe.
Oh, ja, ich komme schon wieder ins Schwärmen, verzeihen Sie. Wir haben wirklich Wichtigeres zu erledigen, natürlich. Aber bald ist Beltane und ich … also Melisande … also wir beide … nun …
Wie auch immer. Ich bin nervös und aufgeregt und weiß doch, nichts wird mich mehr stärken für all das Düstere, das vor uns liegen mag, als ihre Liebe. Und jetzt kein Wort mehr davon, versprochen. Denn zuvor ist es an der Zeit, endlich auch unsere dritte Dame nach Bonn zu holen: Swanhild, die Vampira.
Nach Transsylvanien muss ich reisen. Oder, wie Fräulein Fortunati es lieber nennt, nach Siebenbürgen. Transsylvanien klingt ihr gar zu sehr nach Horror- und Schauerroman und das sei doch ein schlechter Beginn, wollten wir unsere neue Mitarbeiterin mit derlei Klischees begrüßen. Also Siebenbürgen. Im schönen Schäßburg befindet sich unsere ungarische Dependance und von dort aus reise ich nach Schloss Bran, wo Swanhild sich aufhält.
Swanhild Serban-Jørgensen – die Namen nordischer und rumänischer Abstammung. Ich bin höchst gespannt, sie kennenzulernen. Eine echte Vampira, denken Sie sich nur. Sicherlich, ich als Professor der Paranormalen Anatomie bin selbstverständlich bestens vertraut mit der Natur dieser Wesen; ihnen gehörte meine besondere Aufmerksamkeit während meiner Schulzeit in Genf. Aber niemals hatte sich ein Vampir bereitgefunden, uns mit seinem Besuch zu beehren. Sie müssen wissen, die meisten Mitglieder dieser Gattung bevorzugen es, untereinander in ihren Clans zu leben. Andere wiederum geben sich nach außen unauffällig, wohnen unter uns in den Städten und das meist aus Liebe zu einem Menschen. Sicherlich hat diese Separierung dazu geführt, dass wir allerlei falsche und mitunter furchtsame Vorstellungen von dieser Spezies haben.
Sie nicken wieder und ich weiß, was Sie denken. Ihnen fällt allerlei ein zu dem Thema des Vampirismus, nicht wahr? Fledermäuse und Wölfe gewiss, in die Vampire sich verwandeln; fließende Gewässer, die sie nicht überqueren können; das Schlafen in einem Sarg, der gefüllt ist mit heimischer Erde. Kruzifixe, Holzpflöcke, Knoblauch und natürlich das Interesse an Ihrer Halsschlagader kommen Ihnen in den Sinn, unstillbare Gier nach Blut, das Fehlen jeglichen Mitleids und die geradezu hypnotische Anziehungskraft, die von Vampiren beiderlei Geschlechts ausgeht.
Nun, an all dem ist sowohl viel Wahres wie auch viel Unsinniges. Seine Talente hängen vom Alter des Vampirs ab, von seinem Clan, seiner Erziehung und dem Charakter. Es gibt Blutsauger, die kaum schöner und klüger sind als ein gemeiner Hausfloh, und andere, die in jedem Aspekt den besten aller Menschen übertreffen sowohl was das Äußere und den Verstand wie auch das Gefühlsleben anbelangt.
Und Swanhild Serban-Jørgensen muss eine Vampira besonderer Güte sein, da sie bereit ist, sich in den Dienst der Menschheit zu stellen. Morgen werde ich mich auf den Weg zu ihr machen. Das hatte sie sich ausgebeten: Nicht vor dem 20. April dürfe ich erscheinen.
Dem konnte ich nicht zuwiderhandeln, wenn es mir auch schwerfiel, so viel Zeit ungenutzt verstreichen zu lassen. Sicherlich, ich habe an meinen medizinischen Forschungen gearbeitet, habe die Andere Welt – also Ihre – durch das fenestra mundi beobachtet, habe mich gemeinsam mit Miss O’Malley und Herrn Inventoris auch nach Isselburg begeben und mit der Familie Isselheim über deren Tochter Insabeau gesprochen; ich war also aktiv und habe wertvolle Hinweise gesammelt, aber doch waren mir die Hände gebunden. Die Ewigen hatten strikte Anweisung der Ordnenden Mächte, mich nicht noch einmal ohne Schutz hinauszulassen in die Welt, die ich doch schützen soll. Gerne wäre ich mit Melisande nach Wien gereist, hätte noch einmal versuchen wollen, die Magische Quelle in Stein an der Donau zu betreten und einen weiteren Blick in die Dunkelste Welt zu werfen.
Ja, nun schütteln Sie den Kopf und halten mich für einen Trottel, der sich überschätzt. Sie haben recht, schon wieder. Ich weiß es ja. Aber zehn Tage, in denen ein Mörder nicht gefasst wurde, wir die Gestaltwandlerin nicht finden konnten und noch immer nicht wissen, ob Bellefort und Borjeson ein und derselbe sind – das zehrt an meinen Nerven. Denn wie soll ich mit Borjeson umgehen, der sich mir als Freund angeboten hat? Ach, es ist kompliziert, nicht wahr? Und da ist es kein Wunder, wenn ich denke, ein anderer wäre an meinem Platz vielleicht besser aufgehoben …