Mord zwischen Säulen


Antike Kunstschätze. Ein hinterhältiger Mörder. Und Mariella Petrarca.

Ein spektakulärer Fund könnte Saint Caspillian schlagartig berühmt machen, doch der Leiter des archäologischen Instituts Mica Dubos ist alles andere als erfreut. Was genau er befürchtet, möchte er Mariella mitteilen, wenn sie ihn besucht. Doch dazu kommt er nicht mehr …

Mariellas zweiter Fall führt sie in den Westen der Trauminsel, wo zwischen griechischen Ruinen das Grab einer der berühmtesten Frauen der Weltgeschichte liegen soll. Handelt es sich also um Streitigkeiten zwischen Wissenschaftlern? Oder wer sonst hat ein Interesse daran, einen als gütig und hilfsbereit bekannten alten Mann zu töten?

Der Anfang des ersten Kapitels

»Carissima mina«, wisperte Yrjö. Noch im Halbschlaf streckte er die Arme nach Mariella aus. Doch wie er auch um sich tastete, er fand nichts als ein kühles Kissen und die zerwühlte Decke. Widerwillig öffnete er die Augen und schloß sie rasch wieder; die Sonne schien viel zu grell ins Zimmer. »Mariella?«

Er erhielt keine Antwort. Gähnend streckte er sich lang aus, dehnte Arme und Beine, rollte sich endlich auf die Seite und stand auf. Eher zufällig fiel sein Blick auf den Wecker und plötzlich kam Leben in den hochgewachsenen Mann. Er raste ins Bad, wusch und kämmte sich hektisch und putzte seine Zähne mit solcher Hast und Dringlichkeit, dass die Bürste sich rot verfärbte.

»Oh naps noch eins.« Er spülte den Mund mit kaltem Wasser aus und nahm sich trotz aller nötigen Eile die Zeit, sein (ausgesprochen attraktives) Gesicht einzucremen. Diese verlorene Minute versuchte er wettzumachen, indem er halb nackt die Treppe heruntersprang und auf dem Weg zur Küche in die Hosen stieg. Was ihn beinahe zu Boden gestreckt hätte. Mit etwas mehr Ruhe schlüpfte er in das makellos weiße, perfekt gebügelte Hemd. Auf ordentliche Kleidung legte Yrjö größten Wert und nahm sowohl das Waschen wie auch das Bügeln sehr ernst, womit er ein Talent bewies, das Mariella völlig abging, weshalb sie ihre Blusen und Röcke unter seine Wäsche schmuggelte. Was ihm nichts ausmachte, pflegte sie ihm seinen Liebesdienst doch besonders herzlich zu danken.

Woran Yrjö jetzt besser nicht dachte, sonst hätte er noch weniger Lust, das Haus zu verlassen und sich der Reportermeute zu stellen. Die nämlich würde mit Sicherheit auf ihn warten, wenn er den neuesten Ministeriumsbeschluss verkündet haben würde. Schlimmer noch als die Damen und Herren von der Presse würden sich die Mitglieder des Wirtschaftskonsortiums auf ihn stürzen; denen konnten ja nicht genug Touristen nach Saint Caspillian kommen. Nicht wenige von ihnen wären bereit, einem Bauern sein Land wegzunehmen, um es an ausländische Millionäre zu verscherbeln – für ein bisschen mehr Umsatz! Dem musste ein Riegel vorgeschoben werden und genau das hatte Yrjö gemeinsam mit der Ministra für Handel und kulturellen Austausch, Midam Cassioticus, vereinbart.

Etwas nervös ob der Aussicht auf den bevorstehenden Tag trank Yrjö den kalten Kaffee, den Mariella schon vor Stunden gekocht haben musste. Wo war sie überhaupt? Aus dem Büro drang kein Laut nach draußen, obwohl sie – so viel hatte Yrjö während der letzten Wochen ihres Zusammensein schon gelernt – nicht eben leise arbeitete. Sie knallte Schränke und Schubladen, immerzu flitzte sie auf hohen Hacken durchs Haus und klapperte mit Tellern und Tassen und wenn ein Klient oder eine Klientin anwesend war, hörte man sie reden und lachen, schmeichelnd, entschieden, kühl oder mitleidig, ganz so, wie die Person vor ihr es benötigte. War es still, so bedeutete das nur eines: Mariella war nicht hier.
Yrjö sah sich in der Küche um, schaute in den Flur und in ihr Büro. Aber keinen Zettel hatte Mariella hinterlassen. Was er ihr nachsah; sie hatte ja deutlich klar gemacht, dass sie es nicht gewohnt war, in einer festen Beziehung zu leben und irgendwem mitzuteilen, was sie wann wie und wo zu tun hatte. Sie konnte ihm immer wieder versichern, sie wolle das ändern, ja, sie strengte sich an, aber bislang war sie darin wenig erfolgreich. Immerhin hatte sie Kaffee gekocht, das war schon ein Fortschritt. Dass das Gebräu auch als Krafstoff für ihren sonnig gelben Bugatti hätte herhalten können – geschenkt. Wollte er mit dieser Frau zusammenleben, dann musste er Opfer bringen. Wozu Yrjö nur zu bereit war; er fand sie hinreißend. Mit Todesverachtung kippte er auch den letzten Schluck des bitteren Tranks runter.

Mariella Petrarca ging es mit Yrjö Mellor nicht anders; sie fand ihn charmant, liebenswürdig, witzig und klug. Was im Grunde keine Bedeutung hatte, war das doch das Mindeste, was sie bei einem Mann und überhaupt bei allen Menschen erwartete, denen sie Zeit, Aufmerksamkeit und Zuneigung schenkte.

Viel wichtiger war ihr, dass sie und er in nahezu allen Ansichten die Welt betreffend übereinstimmten. Dass sie sich mit ihm und bei ihm wohl fühlte, ohne sich auch nur einmal zu verstellen. Nicht, dass sie sich jemals für einen Mann verstellt hätte; das tat sicherlich kaum eine waschechte Caspilliani. Aber in zu vielen Beziehungen hatte sie sich doch gezwungen gefühlt, über kleinere oder größere Fehler hinwegzugehen, wollte sie einen netten Abend verbringen. Für ein schönes Wochenende oder gar eine ganze Woche hatte sie bislang recht willig über so manches hinweggesehen. Was nutzte einem Mann die Klugheit, wenn er nichts damit anzufangen wusste und seine Nase nie in ein Buch steckte? Was nutzte ihm all seine Bildung, wenn er sie nur dazu nutzte, sich über alles und jeden lustig zu machen? Wem brachten Muskeln etwas, wenn sie mit Faulheit und Langsamkeit gepaart waren? Die Liste der Männer, die Mariella hinter sich gelassen hatte, war nicht eben kurz und dass sie sich mit den meisten von ihnen noch immer gut verstandt, schrieb sie ihrem grundsätzlich guten Geschmack bei der Auswahl eben jener Freunde zu. Na, vielleicht auch der Neigung der caspillianischen Herren, das Leben ebenso entspannt zu betrachten, wie sie es tat.

Vielleicht war es das, was ihr an Yrjö so besonders gut gefiel: Dass er neben dieser Entspanntheit eine Ernsthaftigkeit mit sich brachte, die sich sehr gut mit ihrer eigenen Arbeitsmoral vertrug. Er verstand sie, er arrangierte sich mit ihrer Wesensart ganz wunderbar. Zum ersten Mal konnte sie sich vorstellen, dauerhaft mit einem Mann zusammen zu leben. Seit nun schon sechs Wochen wohnte er unter ihrem Dach; einige Wochenenden hatten sie auch in seinem Haus in Visba Soto verbracht, das Mariella sehr gut gefallen hatte. Ja, wirklich, sie war ganz ausgesprochen glücklich darüber, wie es sich entwickelte.
»Tante Mariella? Hörst du mir überhaupt zu?«
»Immer, mein Junge. Was ist?«
Ernesto Bogdanowitz grinste breit. »Hast du wieder an Yrjö gedacht?«
»Wie kommst du darauf?«
»Nur so.« Der junge Mann seufzte. »Sag, muss ich wirklich -«
»Ja.«
»Aber ich könnte dich begleiten, das wäre doch viel sinnvoller. Du konzentrierst dich auf deine Unterhaltung und ich mache Notizen.«
»Ein verführerischer Vorschlag, aber nein.«
»Ich weiß wirklich nicht, warum -«
»Du meinst, du hättest bereits genug gelernt?«
Immerhin erkannte Mariellas Patensohn eine Falle, wenn sie sich vor ihm auftat. »Man lernt im Leben ja nie aus.«
»Eben. Deshalb gehst du zu Madame Pompidou und ich fahre zu Profesore Dubos.«
»Glaubst du wirklich, Französisch -«
Mariella fuhr langsamer, bog in die Ruo da Prinzessa ein und hielt vor dem Haus mit der Nummer sieben. »Streng dich an, dass ich was sehe für mein Geld. Und Ernesto, wenn du vor mir zurück sein solltest, dann kümmere dich bitte endlich um die Ablage.«
»Ja, natürlich. Kann ich dann -«
»Was immer es ist, wir besprechen es heute Nachmittag. Grüße Madame Pompidou von mir.« Schon gab Mariella wieder Gas und der Bugatti Torpedo schoß um die Kurve.

Bald lag Bellaporta hinter Mariella; sie fuhr die Nordküste Saint Caspillians entlang, vorbei an den schroffen Kliffen, die steil in den Atlantik abfielen. In Capazzo machte sie kurz Halt, lieferte eine Rechnung ab und durfte sich über prompte Bezahlung freuen.

Eine halbe Stunde später erreichte sie Atalanti, die größte Stadt im Südosten der Insel. Hier brandete das Meer an sandige Ufer, die übergingen in grüne Wiesen und bewaldete Hügel, und genau hier waren vor etwa zweitausend Jahren die Griechen gelandet, die auf der Suche nach Atlantis gewesen sein sollten. Obwohl die Insel zu klein war, um das gesuchte Reich zu sein, waren sie doch geblieben und hatten sich von der Schönheit des Ortes gefangen nehmen lassen. Diesen griechischen Entdeckern war die weitläufige Tempelanlage zu verdanken, deren Ruine auf flachen, weit ins Meer ragenden Plateaus stand, und Atalantis Ruf als Stadt des Wissens begründen sollten.

Da war es nur passend, dass Mariella auf Bitten eines Gelehrten hierher kam. Profesore Mika Dubos, seines Zeichens Leiter des Instituta da Sienza, Arta i Arcalogia, hatte ihr am gestrigen Tag einen Brief per Boten zukommen lassen. Darin bat er sie, ihm bei der Aufklärung einer Seltsamkeit zu helfen, die ihn leicht Ruf wie Stellung kosten könne.

Diesen Brief hatte Mariella mit Interesse gelesen und war doch nicht schlau aus dem geworden, was der ältere Herr sagte. Es war deutlich zu erkennen, dass Dubos verwirrt und aufgebracht war; mehr als einen Satz hatte er nicht zu Ende geführt und seine Schrift war gelegentlich nur schwierig zu entziffern. Von Ruf und Stellung hatte er also geschrieben, von einem Zweifel, der ihn befallen habe, und von Intrigen, die er vermute, aber nicht wahrhaben wolle. Dann hatte er sie an ihr Treffen im Mai erinnert und erklärt, er wende sich deshalb an sie und nicht an die Polizei, weil sie so erfolgreich darin gewesen wäre, dem verlogenen Kollegen das Handwerk zu legen. Zuletzt bat er sie ein weiteres Mal, ihn aufzusuchen; am liebsten sofort oder am nächsten Morgen, da er kaum noch wisse, wie er des Nachts schlafen solle. Um was genau es ging oder wer involviert war – darüber hatte er kein Wort verloren. Woraus Mariella ablas, wie durcheinander der Wissenschaftler sein musste, der doch als Leiter einer renommierten Lehranstalt bestimmt in der Lage war, sich klar auszudrücken.