Lindau, den 29.8.59


Brief meines Vaters an meine Mutter

Mein Vater starb am 27. August 2012 und wie das mit Vätern so ist, es war nicht immer einfach mit und zwischen uns. Wir waren uns in zu vielem zu ähnlich, regten uns beide schnell auf und knallten daher immer wieder aufeinander.
Auf der anderen Seite verstanden wir uns hervorragend, waren wir alleine. Wenn wir beispielsweise ohne Mama und Bruder nach Lindau fuhren und er mir von seiner Kindheit, von Onkeln, Tanten und Schulfreunden erzählte – immer darauf achtend, mir nichts von all dem Negativen zu erzählen, wovon ich erst viel, viel später (und bis heute nur bruchstückweise) erfahren habe.
Vom Vater beispielsweise, der strammer Angehöriger der SA war und seine Frau mit Tochter und Sohn noch vor dem Krieg verlassen hat, um in München mit einer anderen Frau zu leben. Mag sein, dass es da Kinder gab; ich weiß es nicht und mein Vater wollte es nicht wissen oder es vergessen. Er sprach nicht davon, wie jung er war, als seine Mutter an Leukämie starb, wobei sie nicht ahnte, wie es um sie stand, weil die Ordensschwestern des Krankenhauses der Meinung waren, man dürfe sterbenden Menschen nicht jede Hoffnung nehmen.
Nur aus Andeutungen habe ich gelernt, dass seine Großmutter für ihn und die ältere Schwester gesorgt hat und immer zu stolz war, um Armenhilfe anzunehmen.

Wenn wir in Lindau waren, hat mein Vater nie vergessen, auf die Kirchkuppel zu weisen und mir zu erzählen, da oben habe er seine Meisterprüfung zum Spengler abgelegt, um kurz danach eine zweite Ausbildung zum Installateur zu beginnen. Er hat seinen Lohn gespart und sich, weil er für die damalige Zeit und wohl auch die Gegend zu lang und zu dünn für Konfektionskleidung war, maßgeschneiderte Hosen und Jacketts leisten zu können; von der Schwester hatte er wohl auch etwas nähen gelernt (für meine Mutter hat er ein Kleid angefertigt und als ich mit dem Nähen anfing, hat er mit großer Freude meine Stücke gelobt).

Ich komme ins Plaudern und vermutlich klingt das jetzt so, als wären wir uns unglaublich nah gewesen. Was auch stimmt. In mancher Hinsicht.

Doch seine Reizbarkeit, seine Wutausbrüche, ausgelöst durch die ständige finanzielle Sorge, wenn wieder einmal die Firma entschied, es wären zwar Überstunden nötig, wollte man die Stelle behalten, die würden aber eine Weile lang nicht bezahlt werden (während der Vorstand neue Dienstwagen bekam …) – die bekam häufig ich ab, die so gar nicht bereit war, ihm um den Bart zu gehen oder zu allem Ja zu sagen. Was mein Vater richtig fand. Eigentlich. Später, als er sich selbstständig machte und es richtig gut lief, war er ein völlig anderer Mensch; es tat ihm wohl, einmal nicht auf jeden Pfennig schauen zu können. Und so sehr er auch schimpfte, wenn ich schon wieder umzog, so war er doch mit Begeisterung dabei, die neue Wohnung fit zu machen – auch da arbeiteten wir gut zusammen.

Ja, wirklich, ich könnte nun sehr lange über meinen Vater sprechen, aber was ich eigentlich möchte: Ich möchte einige der Briefe, die er meiner Mutter nach Bonn geschickt hat, hier nach und nach einstellen. Ich weiß, es wäre ihm ein bisschen peinlich gewesen und natürlich werde ich alles auslassen, was er für unangebracht gehalten hätte. Aber er wäre eben auch stolz darauf gewesen, dass ich sie für so wichtig hielte, um sie eben nicht irgendwann zu vernichten.

Was meine Mutter dazu sagen würde? Das werde ich nicht wissen können; sie weiß nur selten noch, wer dieser Alfred überhaupt war und gelegentlich erkennt sie auch mich nicht mehr. Sie hat nie gerne über die Vergangenheit gesprochen, dazu bekam ich sie nur selten, obwohl ich es so sehr mochte. Aber sie hat seine Briefe aufgehoben und war oft böse darüber, dass er das nicht getan hatte – wobei mein Vater einmal meinte, sie habe gesagt, er soll sie verbrennen.

Ich müsste auf die Suche nach dem Familienbuch gehen, um sagen zu können, wann sie geheiratet haben. Doch ich weiß in etwa, wie sie sich kennengelernt haben: Meine Mutter war mit ihrer Mutter in den Urlaub nach Lindau gefahren; im Sommer 59 war das. Meine Großmutter – über die ich jetzt gerade nicht reden will, auch wenn es schwerfällt – ließ meine Mutter nie aus den Augen, fiel nur leider dem Föhn am Bodensee zum Opfer und musste zwei Tage mit Migräne im Hotel verbringen. Weshalb meine Mutter, Anita, dann doch mal alleine durch die schöne Stadt im Bodensee spazieren durfte. Direkt an der Promenade hockten einige Jünglinge, die sofort anfingen, Namen zu rufen in der Hoffnung, es wäre auch derjenige meiner Mutter darunter. Was sie – natürlich – unangenehm und aufdringlich fand, zumal sie nicht ausweichen konnte und an der Bande vorbeimusste.

Mein Vater, Alfred, löste sich bald aus der Gruppe, kam zu ihr und entschuldigte sich für die Idioten. Abends gingen sie im lieben Augustin essen und tanzen. Weshalb ich heute hier sitzen und darüber schreiben kann …

(Das zumindest war, was meine Mutter mir erzählte. Als ich einige der späteren Briefe las, musste ich entdecken, sie hat gelogen. Tja.)