Hedwig 1882 – An fremden Ufern


Endlich am Nil!

Manchmal aber ist der Weg das Ziel. Schon die Reise nach Ägypten verändert Hedwigs Sicht auf das Leben und die Welt. Luzern, Mailand, Neapel und die Fahrt übers Mittelmeer – Hedwig versteht sich selbst und ihre Gefühle kaum noch. Woran auch ein Herr von Mannsglück seinen Anteil hat. Großen Anteil …

In Ägypten dann muss sie sich entscheiden, wie ihr Leben aussehen soll und mit wem sie es führen wird: mit Max, der einen sensationellen Fund gemacht hat? Mit John, der deutlich gereift ist? Oder mit Felix von Mannsglück, der Hedwig länger schon verehrt, als sie ahnt?

Der letzte Teil der Hedwig-Trilogie – wird Hedwig ihr Glück finden? Und was macht dieses Glück aus?

Als Hedwig hinter ihrer Chaperone Johanna von Heidekamp auf den Bahnsteig trat, hatte sie Mühe, ihre Verärgerung nicht zu zeigen. Vor wenigen Augenblicken erst hatte sie erfahren, welche Route ihre Begleiterin gemeinsam mit dem Schwiegervater und dem Besitzer des Reisebüros festgelegt hatte – und wie lange es dauern sollte, bis sie endlich in At-Tarif angekommen sein würden. Anstatt ihrem verantwortungslosen und wortbrecherischem Ehemann nachzujagen, befand sie sich auf einer Erholungs- und Bildungsreise, die in den Augen der Gesellschaft durchaus standesgemäß erscheinen würde. Vor allem dann, wenn sie an deren Ende gemeinsam mit John nach Bonn zurückkehrte, damit man annehmen durfte, sie wäre die meiste Zeit mit ihm unterwegs gewesen.

Hedwig hatte nichts dagegen, wenn niemand zu genau erführe, wie sehr sie hintergangen worden war, aber dass sie die unbesorgte Reisende spielen sollte, war nicht, was sie vereinbart hatten. Und doch stand sie nun hier in Luzern auf dem Bahnsteig und sah zu, wie ihr zahlreiches Gepäck aufgeladen wurde, während Fräulein von Heidekamp ihrer Aufgabe nachkam und die Kofferträger voranscheuchte.

»Wo haben Sie Ihre Augen, junger Mann? Wenn die Hutschachtel zu Boden fällt, was dann? Haben Sie nicht gelernt, achtsam mit dem Besitz anderer umzugehen? Soll die gnädige Frau mit einer verbeulten Hutschachtel reisen? Wie sähe das denn aus?«

Hedwig vergaß ihren Ärger auf ein Weilchen; viel zu verwundert war sie über die eigentümliche Veränderung, die mit Fräulein von Heidekamp vor sich ging. Sicher, sie hatte vorhin den Kontrolleur mit wenig freundlichen Blicken bedacht und kaum ein Wort mit ihm gewechselt, aber der war nun auch wirklich ein ausgesprochen muffiger Mann, der recht barsch nach den Tickets gefragt und Fräulein von Heidekamp mitten in einer der vielen Erzählungen ihrer bisherigen Reisen unterbrochen hatte. Recht ungehalten hatte sie ihm daher beschieden, er möge sich eines anderen Tons bedienen.

Ansonsten aber hatte sich die ältliche Dame von ihrer besten Seite gezeigt; immerzu hatte sie lustig geplappert und Hedwig alle Viertelstunde nach ihrem Befinden befragt, hatte sie gedrängt, etwas zu essen, aus dem Fenster zu blicken oder sich die Füße zu vertreten, da das lange Sitzen im fahrenden Zug der Verdauung wenig zuträglich sei. Geradezu mütterlich besorgt und tantenhaft plaudernd, ein bisschen albern und dünkelhaft, aber liebenswürdig – das war Hedwigs Eindruck von ihr gewesen. Sie hatte deren Anekdoten höflich gelauscht, Zustimmung und Bewunderung ausgedrückt, wo es ihr angebracht erschien, und ansonsten an John und Max gedacht und daran, wie sie dem einen den Kopf waschen und den anderen … nun, an Küsse hatte sie nicht allzu oft denken können; sie befürchtete ja, man würde ihrem Gesicht ablesen können, weshalb sie sich wirklich auf dieser Reise befand. Eine Reise mit einer Begleiterin, die ihr bislang sehr angenehm gewesen war.

Wie Fräulein von Heidekamp aber nun mit den beiden Männern sprach, die doch ihren Lebensunterhalt sauer genug verdienten, erstaunte Hedwig nicht nur, es verschreckte sie. Irgendwen wegen der albernen Schachtel anzugehen, in der ein viel zu prächtiger Hut steckte, der aus welchen Gründen auch immer seinen Weg auf diese Reise gefunden hatte, war völlig übertrieben. Und als die Chaperone dazu überging, im jungen Kofferträger einen charakterlichen Defekt zu vermuten, ging Hedwig dazwischen.
»Fräulein von Heidekamp, es ist doch nicht nötig -«
»Wie? Ach, meine liebe Frau Thebes, sind Sie nicht auch entsetzlich erschöpft? Ein Glück, dass wir endlich angelangt sind. Denken Sie nur, wie gut es Ihnen hier gehen wird. Luzern ist jede Strapaze wert, es ist ganz und gar reizend und das Hotel erst! Ihr Schwiegerpapa meint es gut mit Ihnen und ich bin überzeugt, Sie verdienen seine Güte.«
»Ja, er ist ein großzügiger Mann. Zu großzügig, finden Sie nicht auch? Mir hätte es nichts ausgemacht, bis Mailand durchzufahren. Vielleicht können wir morgen früh einen Reiseagenten aufsuchen und die Fahrscheine -«
Fräulein von Heidekamp hörte offenbar nicht zu, denn mitten im Satz nahm sie Hedwig am Arm und zog sie voran, hinaus aus dem Bahnhofsgebäude auf den weitläufigen Platz. Sie lachte und wies hin zu einer flachen, eher schmucklosen Brücke, die ganz nahe am See über einen Flussarm führte. »Reizend, nicht wahr? Hinter uns liegt der Pilatus, vor uns … Nun, das muss ich wahrhaftig nachlesen. Ist es der Rigi? Welcher Berg auch immer, dieses Panorama ist sagenhaft. Diese Brücke überspannt die Reuss, die vor unseren Augen sich in den Vierwaldstättersee ergießt. Die Uferpromenade – aber Frau Thebes, schauen Sie doch nur, die Sonne geht ja gleich unter, Sie wollen doch nichts verpassen. Ach und es tut so ungemein gut, endlich wieder anständig ausschreiten zu können, nicht wahr? Holen Sie tief Luft! Großartig ist das, ganz großartig, das ist Balsam für die Lungen, gerade nach der langen Fahrt.«

Mit einem ordentlichen Tempo marschierte Fräulein von Heidekamp voran, sodass Hedwig nichts anderes blieb, als ebenfalls rascher zu laufen. Was sie unter anderen Umständen genossen hätte; immer schon war sie lieber eilig unterwegs, denn geruhsam zu flanieren. Aber noch lieber wäre sie schnell in Ägypten, also versuchte sie es ein drittes Mal.

»Vielleicht können wir sogar heute Abend noch jemanden erreichen und die Fahrkarten -«
»Ja, Himmel noch, ist es denn zu fassen, wie lahm diese Träger sind? Dackeln hinter uns her, als hätten wir alle Zeit der Welt! Machen Sie voran, meine Herren, Sie sehen doch, die gnädige Frau ist am Ende ihrer Kräfte!«
»Aber was sagen Sie denn da, Fräulein von Heidekamp? Es geht mir ausgezeichnet und ich sehe keinen Grund, weshalb -«