Hedwig 1882 – An fremden Ufern

Als Hedwig hinter ihrer Chaperone Johanna von Heidekamp auf den Bahnsteig trat, hatte sie Mühe, ihre Verärgerung nicht zu zeigen. Vor wenigen Augenblicken erst hatte sie erfahren, welche Route ihre Begleiterin gemeinsam mit dem Schwiegervater und dem Besitzer des Reisebüros festgelegt hatte – und wie lange es dauern sollte, bis sie endlich in At-Tarif angekommen sein würden. Anstatt ihrem verantwortungslosen und wortbrecherischem Ehemann nachzujagen, befand sie sich auf einer Erholungs- und Bildungsreise, die in den Augen der Gesellschaft durchaus standesgemäß erscheinen würde. Vor allem dann, wenn sie an deren Ende gemeinsam mit John nach Bonn zurückkehrte, damit man annehmen durfte, sie wäre die meiste Zeit mit ihm unterwegs gewesen.
Hedwig hatte nichts dagegen, wenn niemand zu genau erführe, wie sehr sie hintergangen worden war, aber dass sie die unbesorgte Reisende spielen sollte, war nicht, was sie vereinbart hatten. Und doch stand sie nun hier in Luzern auf dem Bahnsteig und sah zu, wie ihr zahlreiches Gepäck aufgeladen wurde, während Fräulein von Heidekamp ihrer Aufgabe nachkam und die Kofferträger voranscheuchte.
»Wo haben Sie Ihre Augen, junger Mann? Wenn die Hutschachtel zu Boden fällt, was dann? Haben Sie nicht gelernt, achtsam mit dem Besitz anderer umzugehen? Soll die gnädige Frau mit einer verbeulten Hutschachtel reisen? Wie sähe das denn aus?«
Hedwig vergaß ihren Ärger auf ein Weilchen; viel zu verwundert war sie über die eigentümliche Veränderung, die mit Fräulein von Heidekamp vor sich ging. Sicher, sie hatte vorhin den Kontrolleur mit wenig freundlichen Blicken bedacht und kaum ein Wort mit ihm gewechselt, aber der war nun auch wirklich ein ausgesprochen muffiger Mann, der recht barsch nach den Tickets gefragt und Fräulein von Heidekamp mitten in einer der vielen Erzählungen ihrer bisherigen Reisen unterbrochen hatte. Recht ungehalten hatte sie ihm daher beschieden, er möge sich eines anderen Tons bedienen.
Ansonsten aber hatte sich die ältliche Dame von ihrer besten Seite gezeigt; immerzu hatte sie lustig geplappert und Hedwig alle Viertelstunde nach ihrem Befinden befragt, hatte sie gedrängt, etwas zu essen, aus dem Fenster zu blicken oder sich die Füße zu vertreten, da das lange Sitzen im fahrenden Zug der Verdauung wenig zuträglich sei. Geradezu mütterlich besorgt und tantenhaft plaudernd, ein bisschen albern und dünkelhaft, aber liebenswürdig – das war Hedwigs Eindruck von ihr gewesen. Sie hatte deren Anekdoten höflich gelauscht, Zustimmung und Bewunderung ausgedrückt, wo es ihr angebracht erschien, und ansonsten an John und Max gedacht und daran, wie sie dem einen den Kopf waschen und den anderen … nun, an Küsse hatte sie nicht allzu oft denken können; sie befürchtete ja, man würde ihrem Gesicht ablesen können, weshalb sie sich wirklich auf dieser Reise befand. Eine Reise mit einer Begleiterin, die ihr bislang sehr angenehm gewesen war.
Wie Fräulein von Heidekamp aber nun mit den beiden Männern sprach, die doch ihren Lebensunterhalt sauer genug verdienten, erstaunte Hedwig nicht nur, es verschreckte sie. Irgendwen wegen der albernen Schachtel anzugehen, in der ein viel zu prächtiger Hut steckte, der aus welchen Gründen auch immer seinen Weg auf diese Reise gefunden hatte, war völlig übertrieben. Und als die Chaperone dazu überging, im jungen Kofferträger einen charakterlichen Defekt zu vermuten, ging Hedwig dazwischen.
»Fräulein von Heidekamp, es ist doch nicht nötig -«
»Wie? Ach, meine liebe Frau Thebes, sind Sie nicht auch entsetzlich erschöpft? Ein Glück, dass wir endlich angelangt sind. Denken Sie nur, wie gut es Ihnen hier gehen wird. Luzern ist jede Strapaze wert, es ist ganz und gar reizend und das Hotel erst! Ihr Schwiegerpapa meint es gut mit Ihnen und ich bin überzeugt, Sie verdienen seine Güte.«
»Ja, er ist ein großzügiger Mann. Zu großzügig, finden Sie nicht auch? Mir hätte es nichts ausgemacht, bis Mailand durchzufahren. Vielleicht können wir morgen früh einen Reiseagenten aufsuchen und die Fahrscheine -«
Fräulein von Heidekamp hörte offenbar nicht zu, denn mitten im Satz nahm sie Hedwig am Arm und zog sie voran, hinaus aus dem Bahnhofsgebäude auf den weitläufigen Platz. Sie lachte und wies hin zu einer flachen, eher schmucklosen Brücke, die ganz nahe am See über einen Flussarm führte. »Reizend, nicht wahr? Hinter uns liegt der Pilatus, vor uns … Nun, das muss ich wahrhaftig nachlesen. Ist es der Rigi? Welcher Berg auch immer, dieses Panorama ist sagenhaft. Diese Brücke überspannt die Reuss, die vor unseren Augen sich in den Vierwaldstättersee ergießt. Die Uferpromenade – aber Frau Thebes, schauen Sie doch nur, die Sonne geht ja gleich unter, Sie wollen doch nichts verpassen. Ach und es tut so ungemein gut, endlich wieder anständig ausschreiten zu können, nicht wahr? Holen Sie tief Luft! Großartig ist das, ganz großartig, das ist Balsam für die Lungen, gerade nach der langen Fahrt.«
Mit einem ordentlichen Tempo marschierte Fräulein von Heidekamp voran, sodass Hedwig nichts anderes blieb, als ebenfalls rascher zu laufen. Was sie unter anderen Umständen genossen hätte; immer schon war sie lieber eilig unterwegs, denn geruhsam zu flanieren. Aber noch lieber wäre sie schnell in Ägypten, also versuchte sie es ein drittes Mal.
»Vielleicht können wir sogar heute Abend noch jemanden erreichen und die Fahrkarten -«
»Ja, Himmel noch, ist es denn zu fassen, wie lahm diese Träger sind? Dackeln hinter uns her, als hätten wir alle Zeit der Welt! Machen Sie voran, meine Herren, Sie sehen doch, die gnädige Frau ist am Ende ihrer Kräfte!«
»Aber was sagen Sie denn da, Fräulein von Heidekamp? Es geht mir ausgezeichnet und ich sehe keinen Grund, weshalb -«
Mild lächelnd schüttelte Fräulein von Heidekamp den Kopf und tätschelte Hedwigs Hand. »Viel zu gut sind Sie ja, meine Liebe, viel zu gut. Sie kennen die Welt nicht und das kann Ihnen auch niemand verdenken. Aber Sie dürfen sich nicht alles gefallen lassen. Für Ihr gutes Geld können Sie gute Arbeit verlangen und – ja, also wirklich, nun ist es geschehen! Die schöne Hutschachtel! Ja, sehen Sie, da ist eine Delle, ganz verbeult ist die Ecke, das lässt sich nicht reparieren! Können Sie denn nicht achtgeben?«
Die beiden jungen Männer schwiegen; derjenige, dem der Fehler unterlaufen war, senkte demütig den Kopf. Der andere schien etwas sagen zu wollen, entschied sich aber doch, den Mund zu halten.
Nicht so Hedwig, der die Situation sehr unangenehm war. »Mir liegt wirklich nichts daran, wie der Karton aussieht und ich bin überzeugt, bis wir in Ägypten eintreffen, wird all unser Gepäck die eine oder andere Schramme haben. Ich kann damit sehr gut leben und vielleicht wollen wir nun nicht gar so schnell rennen, ja?«
Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte die Chaperone auch Hedwig zurechtweisen; sie starrte sie an mit einem Blick so voller Mißfallen, dass Hedwig sich zurückversetzt glaubte in ihre Zeit bei Frau Schöneseiffen, der sie es kaum jemals hatte rechtmachen können. Dann lachte Fräulein von Heidekamp, schüttelte den Kopf, wie sie es einem Kinde gegenüber getan hätte, das in aller Unschuld etwas Unpassendes gesagt hatte.
»Meine liebe Frau Thebes«, antwortete sie, »Sie werden es noch lernen. So ist es nun einmal, wenn man wohlbehütet aufgewachsen ist und niemals Böses erlebt hat. Gewiss haben Ihre Schwiegereltern Ihr Personal ausgesucht, vielleicht sogar ausgebildet. Und das neide ich Ihnen nicht, es freut mich von Herzen, wie naiv Sie noch sind. Das ist ja auch meine Aufgabe, mich darum zu kümmern, dass es so bleibt, nicht wahr? Dass Sie sicher reisen und keinen Schaden nehmen an Leib und Seele. Doch ich werde es Ihnen nicht ersparen können: Sie werden bemerken, wie gerne man Sie übervorteilen möchte. Das so genannte einfache Volk ist nicht immer nur liebenswürdig und es ist unsere Aufgabe, denjenigen den Weg zu weisen, die … Ja, die zu anderen Aufgaben gedacht sind.«
Hedwig fehlten die Worte; sie war ganz und gar zurückgeworfen in diese Zeit als Zimmermädchen, in der sie so oft und gerne etwas entgegnet hätte, aber es nicht wagen durfte. Wie konnte das nur sein? Weshalb hatte Fräulein von Heidekamp plötzlich eine solche Wirkung auf sie? Hedwig straffte die Schultern, wollte etwas sagen. Und ließ es doch. Es hätte ihrer Sache nicht gedient, der Älteren aufzuzählen, wie viel mehr sie vom wahren Leben gesehen hatte und von wo aus sie zu ihrer heutigen Stellung in der Gesellschaft gelangt war. Damit würde sie niemals deren Respekt erwerben, sondern nur ihre Verachtung. Und das war es wohl, weshalb sie sich wieder fühlte wie vor Jahren: Weil Fräulein von Heidekamp zu jenen Leuten gehörte, für die Herkunft und Stand alles war. Jetzt hob Hedwig das Kinn höher. Gut. Sie hatte erkannt, mit wem und was sie es zu tun hatte; darauf würde sie sich einstellen und nun erst recht zusehen müssen, diese Reise schneller zu bewerkstelligen. Bis dahin würde sie nicht zeigen, wie unlieb ihr die Begleiterin auf einmal war. Und vielleicht irrte sie sich ja?
Sie lächelte. »Von der Welt habe ich wahrhaftig noch nicht vieles gesehen, aber es ist mir wichtig, all meinen Mitmenschen Freundlichkeit zu bezeigen. Daher …«
»Aber ja, ja, das versteht sich von selbst, Sie sind ja ganz reizend. Machen Sie sich keine Sorgen und lassen Sie mich alles regeln. Ach und jetzt sehen Sie nur, wie prächtig die Sonne untergeht. Herrlich, nicht wahr? Ganz herrlich. Ja, und schauen Sie, da gehen schon die Lichter an. Und dort vorne ist es schon. Unser Hotel ist sicherlich eines der ersten Häuser der Stadt; Ihr lieber Schwiegerpapa lässt es an nichts missen. Lassen Sie uns nur eilen, um Punkt acht werden wir unser Essen aufs Zimmer erhalten.«
»Aufs Zimmer? Wir -«
»Auch in einem solch erstklassigen Hause wollen wir nicht den Speisesaal nutzen, wenn es nicht sein muss. Meine liebe Frau Thebes, was denken Sie nur, wie das abliefe? Sie ahnen ja nicht, wie viele Herren alleine unterwegs sind und sich von Ihrem Anblick ermuntert fühlen würden, Ihnen den Hof zu machen. Wirklich, das wollen Sie nicht erleben. Nein nein, wir beide werden es uns recht gemütlich machen in Ihrer Suite und ganz bequem speisen.«
»Und dabei wollen wir überlegen, wie wir unsere Reise beschleunigen können. Ich sehe nicht ein, weshalb wir erst am Montag Mailand verlassen und -«
»Aber meine liebe, liebe Frau Thebes, denken Sie doch nur: Italien! Wenn wir am späten Nachmittag in Mailand eintreffen, ist an ein Weiterkommen nicht mehr zu denken. Des Nachts in einem italienischen Zug? Das ist mir dann doch zu viel der Verantwortung.«
»Wir könnten zumindest am Freitag -«
»Der erste Mai, meine Liebe. Überall werden die Leute auf die Straße gehen, die Geschäfte sind geschlossen, die Bahnen fahren kaum und vermutlich müssen wir sogar mit einigen Aufläufen und Umzügen rechnen.« Wieder lachte Hedwigs Begleiterin, doch klang es wenig erfreut. »So feiert man den Tag der Arbeiterrechte. Zu befremdlich, nicht wahr? Anstatt besonders fleißig und freudig seine Aufgaben zu erledigen, läuft man umher und brüllt und fordert noch mehr freie Zeit.«
Nun gab es für Hedwig keinen Zweifel mehr, was Johanna von Heidekamps Weltsicht anging. Sicher, so dachten viele in den Kreisen, in die sie hineingeheiratet hatte, aber meist klang doch auch Mitleid mit in solchen Auslassungen, die niemals direkt ausgesprochen wurden, sondern selten mehr als dezente Andeutungen waren. Da aber gerade einmal der erste Tag der gemeinsamen – und vermutlich wochenlangen – Reise zu Ende ging, entgegnete Hedwig nichts. Die Sache des Proletariats war ihr dann doch weniger wichtig als ihr eigenes Glück, das gestand sie sich gerne ein.
Sie nickte den beiden Trägern zu, freute sich, dass die ihre Aufmunterung offenbar zu Recht als Bitte um Entschuldigung verstanden, und entschied, das Beste aus ihrer Lage zu machen und die Schönheit Luzerns zu bewundern. Davon bekam sie jedoch nicht mehr viel mit, senkte sich die Dunkelheit doch rasch über Stadt und See. Sie atmete tief ein, was ihr Fräulein von Heidekamps Lob einbrachte, und gab zu, es wäre diese Luft von einer anderen Qualität als die bislang geatmete. Das freute die ältere Dame und so schien der Frieden wieder hergestellt.