Wo fange ich an? Schwierig. Früher, als ich noch als Michou loves Vintage bloggte (und glaubte, damit niemals aufzuhören), habe ich mir alles von der Seele weg ins Netz geschrieben. Und mich gefreut, dass, was immer mich auch beschäftigte, ärgerte oder niederschlug, anderen ganz ähnlich ging. Nicht, weil geteiltes Leid halbes Leid ist oder ich mich an den Missgeschicken und Dramen anderer ergötze, sondern weil wir – die Blogfreundinnen und ich – nicht mehr allein damit standen. Vieles meinen wir nämlich, mit uns selbst ausmachen zu müssen. Oder wir denken, so etwas passiert nur uns. Oder wir schämen uns für das, was uns widerfährt und was wir fühlen. Festzustellen, dass wir eben nicht allein sind mit Ärger, Angst und Trauer, ist heilsam und tröstlich.
Damals, als Michou, habe ich lange Jahre nur über das geschrieben, worum es in dem Blog eigentlich ging: Übers Stricken, Nähen und Konstruieren. Anfangs besprach ich Strickanleitungen, zeigte, was ich angefertigt hatte, und vermied es tunlichst, zu persönlich zu werden. Bis ich das nicht mehr aushielt. Ich fühlte und fühle mich vor der Kamera extrem unwohl und das sah man den Bildern natürlich auch an. Und man sah auch, dass ich mich mit mir selbst nicht wohl fühlte. Oder vielmehr mit meinem Äußeren. (Dass ich mir die Fotos heute anschaue und jetzt auch sehen kann, was andere damals sehen, ist eine ganz andere Geschichte, da will ich nun gar nicht hin. Und ich möchte auch nicht zu ausführlich darauf eingehen, dass ich daraus genau was gelernt habe? Richtig geraten: Nix!) Und dieses Unwohlsein musste ich formulieren, immer wieder und immer wieder erweitert. Ich begann, auch mal über dieses und jenes zu schreiben, das mit mir persönlich zu tun hatte und nicht nur mit meinen zu hohen Hüften oder meinen nach vorne geneigten Armkugeln (sobald man das Schnitterstellen erlernt, bleibt einem leider keine körperliche Abweichung von der Konstruktionsnorm verborgen – harte Zeiten fürs Ego!). Ich erzählte Anekdoten aus meiner Zeit als Kosmetikerin, ich schrieb darüber, weshalb mir die Mode vergangener Jahrzehnte etwas bedeutete oder wie ich auf diese Liebe gekommen war. Immer aber hatte alles mit meinen beruflichen und freizeitlichen Themen zu tun: Handarbeiten, Vintage, Schönheit und Farbe.

Bis mein Vater schwer erkrankte und sechs Wochen später starb. Auf einer Palliativstation. Weil er nicht mehr wollte und mich bat, ihm einen Platz zum Sterben zu suchen. Ich teilte meine Ängste und Sorgen im Blog. Mit zeitlicher Verzögerung, ich lief ja der Entwicklung immer nur hinterher. Von einer vagen Diagnose mit zum Entstadium lagen die Sommerferien der Söhne. Ganz exakt. Leonard kam danach in ich die zweite, Tom in die erste Klasse. Ich war täglich (mit zwei Ausnahmen) bei meinem Vater. Erst am anderen Ende der Stadt, später fünf Gehminuten entfernt. Es war ein schöner Sommer, sonnig, nicht zu heiß, mit bald täglich strahlend blauem Himmel. Die Kinder nahm ich fast immer mit; ich konnte mir den Luxus nicht leisten, darüber nachzudenken, ob sie zu klein für Krankheit und Tod sind. (Sind sie nicht, es war gut so.) Es bedeutete meinem Vater viel und mich hielt es irgendwie aufrecht. Mein Bruder lebt zu weit fort, meine Mutter kam nicht wirklich klar, es hing alles an mir. Wenn mein Vater etwas brauchte oder reden wollte, dann telefonierte er mit mir. Das Telefon lag nachts an meinem Bett und jedes Klingeln machte mir Angst. Noch heute ist mein ärgster Albtraum, mein Vater sei todkrank. Ich erwache panisch, merke, es ist ein Traum, freue mich kurz, dann fällt mir ein: Papa ist daran gestorben. Vor zehn Jahren schon.
Seitdem ging gefühlt so ziemlich alles bei mir den Berg runter. Menschlich gesehen. Global gesehen. Manchmal auch persönlich. Nach Papas Tod hielt ich mich erstaunlich gut. Ich nähte und bloggte weiter. Schrieb über Politik und darüber, was mich an unserer Blogosphäre störte. Ich hatte auch geschrieben, als Papa starb. Zwei oder drei Zeilen. Das war nötig, nachdem ich täglich einen Zustandsbericht gegeben hatte. Was manche unethisch fanden. Mein Vater fand es richtig und gut. Als ich schrieb, dass es vorbei sei, erhielt ich hunderte Beileidskommentare. Von den Blogfreundinnen und -kolleginnen, von ganz fremden Frauen, die sich bislang nie geäußert hatten. Und von manchen, die sonst viel schrieben, kam nichts. Das merkte ich in meiner dumpfen Trauer dann doch. Das hatte auch etwas verändert, erst recht, als eine von denen, die dazu schwiegen, mit ziemlicher Vehemenz kommentierte, als ich über die Blogosphäre schrieb. Drei Tage später.
Man merkt, meine Erinnerungen und Gefühle übernehmen gerade das Schreiben. Papas Tod ist nach wie vor ein Trauma, das ich nicht loswerde. Weil die Welt in eine Richtung wandert, vor der mein Vater die größte Sorge hatte. Immer wieder geschehen Dinge, bei denen ich froh bin, dass er das nicht mehr hat erleben müssen; es hätte ihn umgebracht. Langsamer und zersetzender als der Krebs. Aber genau das ist wohl auch das, was ich von meinem Vater habe: Dieses nicht Abschaltenkönnen und dieses Leiden an der Welt und den Dingen, die ich alleine nicht ändern kann. Und damit bin ich ganz sicher nicht allein. Die Angst vor einer klimatisch aggressiven Welt, in der meine Söhne leben werden, vor einer Welt, in der Nazis und Despoten Kriege anfangen, die nicht mehr einzudämmen sein werden, wenn Teile der Welt nicht mehr bewohnbar sind vor lauter Hitze, Dürre und Überflutungen. Ich leide nicht mehr nur täglich, sondern stündlich an der gemeinen Dummheit und dem gierigen Egoismus zu vieler Menschen in zu wichtigen Positionen. Ich kann kaum noch abschalten und selbst, wenn ich nach dem Yoga (das ich auch zu lange vergessen hatte und kaum noch meine Zehen berühren kann) im Shavasana liege, merke ich, dass ich mein Gesicht nicht mehr entspannen kann; immer bin ich angestrengt, hart und – um es ganz klar zu sagen – hart am Rande einer Depression.
Depressionen sind die Hölle, selbst dann, wenn sie nur mild verlaufen. Drei Mal habe ich das erlebt, einmal vor gut zwanzig Jahren angestoßen durch meine Gewissheit, meinen Beruf aufgeben zu wollen, und einmal, als ich ganz frisch mit meinem Mann zusammen war und eigentlich kein Grund bestand. Für diesen beiden Male reichte es für mich, mit einer Ärztin zu sprechen, Johanniskrautkapseln zu nehmen und mich auf das Gute zu konzentrieren. Das dauerte ein wenig, aber ich kam raus aus dem schwarzen tiefen Loch. Worauf ich – zurecht – ziemlich stolz war.
Die dritte erwischte mich im Januar 2013. Papa hatte am 24. Dezember Geburtstag und dieses erste Fest ohne ihn machte mir endgültig klar: Er war nicht mehr da. Und auf einmal quälte mich die Frage, ob ich richtig gehandelt hatte, als ich seiner Bitte nachkam und alle weiteren Behandlungen abgesagt und ihm einen Platz in der Palliativen besorgt hatte. Hätte ich anfeuern müssen? Hätte ich darauf bestehen sollen, dass er weitermacht? Oder war mein Vater alt genug, um für sich zu entscheiden, was er will?
Erst Mitte Februar fiel mir auf, dass ich nur noch auf dem Sofa saß, eingehüllt in eine Heizdecke, und dort meist nichts tat. Der Fernseher lief ständig, aber was ich da sah, weiß ich nicht. Ich strickte wohl auch, aber das war etwas, was ich so selbstverständlich und blind tat, dass es mich nicht forderte, mir nichts abverlangte. Ich weinte oft. Immerzu wohl eher und weder Mann noch Söhne fragten, was ich kochen oder ob ich nicht doch mal den Haushalt, der ja leider meine Sache war (auch das etwas, worüber man lange reden könnte) anpacken wolle. Sie streichelten mich, küssten mich, saßen manchmal neben mir und weinten mit oder erklärten, dem Opa ginge es jetzt wieder gut. Mein Mann sagte mir wieder und wieder, dass ich alles richtig gemacht hätte, aber von meiner Mutter hätte ich das vielleicht eher hören müssen. Aber die sprach nicht von ihrem Mann; sie machte das mit sich aus und wurde böse, wenn ich ihn erwähnte.
War das Trauer oder Depression? Beides vermutlich. Ich schrieb auch darüber, nachdem ich merkte, was mit mir los war. Ich schrieb über Trauer und die Unfähigkeit, darüber hinwegzukommen in einer für die Gesellschaft akzeptablen Zeitspanne. Darüber, wie diese eine offene Frage nach der Richtigkeit des Handelns mich lähmte. Darüber, wie nutzlos und klein ich mir vorkam. Ich schrieb es, wie ich jetzt schreibe und wie ich lange nicht geschrieben habe, seitdem ich nicht mehr blogge, sondern meine Gedanken zu Romanen forme: Ich lasse es fließen, ich öffne mich vollkommen, ich gebe mich dem Schreiben hin.
Ich veröffentlichte den Beitrag und es ging mir besser. Dieses Mal kamen nur Kommentare von Freundinnen. Und über siebzig Mails von fremden Frauen, die mir Trost zusprachen und mir schrieben, wie sehr sie sich darin wiederfanden, was ich sagte. Die mir ihre eigenen Trauererlebnisse schilderten. Ich habe sie alle gelesen, dankbar für das Vertrauen, mit dem meine Offenheit belohnt wurde. Das ist, was Schreiben seit Kindertagen für mich war: eine Begegnung.
Tja, und jetzt erst komme ich zu dem, wohin ich wollte – bis hierhin schafft es vermutlich kaum jemand. Ich komme zu dem, was mich neben all dem Grauen in der Welt auch noch belastet und für das ich mich schäme. Zweifach schäme, was echt nur was für Profis ist. Neben allem anderen, was mich fertig macht, frage ich mich permanent, ob es überhaupt noch angebracht ist, mit dem Autorinnenleben Geld verdienen zu wollen. Wer braucht denn jetzt ausgerechnet meine Romane, die ja eh niemals allen oder auch nur sehr vielen zu gefallen scheinen? Darf ich mich in Zeiten wie diesen darüber grämen, dass die letzten beiden Veröffentlichungen vom Start weg schon vergessen und unsichtbar sind? Zumal ich in Zeiten wie diesen noch weniger als sonst in der Lage bin, Werbung für mich zu machen. Was mich in meinen Gedankenzirkeln sofort zum nächsten Anklagepunkt bringt. Anklage gegen mich natürlich, nicht irgendwen sonst. Weshalb fällt es mir so schwer, mich bzw. meine Arbeit zu verkaufen? Über mich reden kann ich leicht, mich kann man alles fragen und ich werde meist offen antworten. Ehrlich eh. Aber mich anbieten, jemandem sagen: Los jetzt, lies das, das wird dir gefallen – das kann ich nicht. Logisch, ich versuche es immer wieder einmal, ich plane Instabeiträge vor oder fange mal wieder an, am Newsletter zu arbeiten; 111 Abonnentinnen – sehr überschaubar, aber auch für den Aufbau dieser Liste tue ich nichts. Weil ich nicht weiß, wie das gehen soll, weil ich mich nicht anbieten kann oder mag, weil ich tief im Inneren schüchtern und bin immerzu davon überzeugt, eben doch nichts richtig zu können. Weshalb also irgendwem mit Aufforderungen auf die Nerven fallen?
Es greifen meine Ängste und Sorgen einfach zu perfekt ineinander; an jeder Stelle meines Autorinnendaseins findet sich etwas, was mich unter Druck setzte. Da liest man davon, wie wichtig das Marketing sei, mindestens so wichtig wie das Schreiben, das unbedingt marktgerecht sein muss und nicht zu sehr das sein soll, was die Autorin gerade will. Zehn kleine Stündchen die Woche für soziale Medien, Corporate Identy, Regelmäßigkeit, Interaktion, überall kommentieren, ständig sichtbar sein, heiles Leben vorführen – das kann man doch wohl erwarten? Und ich versuche es immer wieder, lerne ja ständig dazu, ob es nun Lektionen fürs Leben sind oder neue Software, um das, was ich schreibe, besser und schöner zu präsentieren. Aber diese zehn Stunden bringe ich kaum noch unter, denn längst arbeite ich täglich von Montag bis Sonntag und das nicht eben selten von morgens acht bis abends elf oder zwölf Uhr. Ich schreibe, ich recherchiere, ich korrigiere, ich layoute, ich mache und tue und habe daneben eben doch auch vier Tiere, zwei Söhne (bzw. da sie fast erwachsen sind, deren Dreck …), einen Mann, meine demente Mutter, einen Haushalt und meine Freundinnen. Und meine Gesundheit, die mir wenig stabil erscheint nach den qualvollen Wechseljahren. Gerade eben habe ich ein Muttermal gefunden, das unbedingt zum Hausarzt sollte; da darf ich hoffen, dass die Krankenkasse mir einen Termin organisiert, denn ansonsten finde ich schon seit Jahren keinen Arzt in diesem Bereich, aber jetzt drifte ich endgültig ab. Thematisch gesehen.
Ja, und bei all dem bleibt immer wieder die Ahnung übrig, die ich auch schon in meinem zweiten Rezensions-Post geäußert hatte: Dass am besten nur sehr toughe und strategisch und kaufmännisch denkende Menschen Autorin werden. Weil nur die mit negativer Kritik und vollem Markt fertig werden. Menschen, die leicht schreiben, was andere genauso haben wollen, die Erwartungen erfüllen, die Geld bringen, um sich diesen Beruf leisten zu können.
Heißt das, ich höre auf?
Nein, heißt es nicht. Es heißt nur, dass ich all das, was ich hier geschrieben habe, schon viel zu lange mit mir herumtrage. Bestimmt habe ich zu viel über das eine und zu wenig über das gesprochen, was ich im Kopf hatte, aber ich habe es irgendwie formuliert und sende es jetzt ins Netz und mir von den Schultern. Und wie ich es damals gemacht habe, lese ich mir jetzt nicht durch, was ich geschrieben habe, es sind mir schiefe Formulierungen, zu große Offenheit oder Schreibfehler egal, es muss einfach nur raus. Das habe ich viel zu lange nicht mehr gemacht. Weil es nicht professionell ist. Aber ich bin in erster Linie ich und erst danach Autorin, auch wenn mein Beruf längst jedes andere Interesse geschluckt hat. Was in Ordnung ist, ich liebe meist, was ich tue. Nur dass ich kein Talent für Erfolg habe, das drückt mich nieder. Und dass ich mir das manchmal wünsche. Und dass ich das egoistisch finde, macht mich noch unglücklicher. Und das in diesen Zeiten, in denen alles wichtiger ist als lustige kleine Romane oder fantastische Welten. Nur liebe ich meine Figuren und Geschichten sehr und ich wünschte mir, ich könnte diese Liebe teilen.
So. Jetzt geht es mir besser. Sollte jemand bis hierhin gelesen haben, dann fühl dich aufgefordert, mir zu schreiben. Hier oder auf Insta oder per Mail oder auf twitter. Ich freue mich.