
Manchmal kommt es unverhofft. So auch dieses Mal: Mein Fräulein Schumacher bekommt Konkurrenz im eigenen Haus – Mrs Elizabeth Davies hat ebenfalls den einen oder anderen Fall zu lösen und möchte davon berichtet wissen. Einem solchen Ansinnen verschließe ich mich ja niemals, das hat sich leider unter meinen Figuren herumgesprochen, und so bin ich nun damit beschäftigt, der noch jungen Witwe ihr Debüt zu verschaffen. Und wie immer lasse ich mir beim Anfang über die Schulter schauen:
Auf in den Süden!
17. März 1920
Am 17. März vor vier Jahren erreichte mich die Nachricht, die ich seit Ausbruch des Krieges befürchtet hatte: Per Telegramm teilte mir ein Lieutenant-Colonel Merriweather zu seinem tiefsten Bedauern mit, mein Ehemann Captain Thomas Daniel Davies sei auf dem Schlachtfeld in Frankreich gefallen.
Ich stand in der Haustür, vor mir der Postbote, der etwas von Gott, Vaterland und Ehre murmelte, als ob das irgendetwas besser machte. Und wie all die anderen, die diese Nachricht erhielten, wusste ich auf seine Frage, ob er warten solle, nichts Besseres zu entgegnen als: »Keine Antwort, vielen Dank.« Was sollte ich dem Lieutenant-Colonel auch erwidern?
Ich erinnere mich gut, wie ich die Türe leise schloss und George, den alten Butler der Davies’, bat, Tee für meine Schwiegereltern aufzubrühen und im Salon zu servieren.
Ich wartete in der Halle, bis er zurückkam; ohne ihn und das nachmittägliche Ritual von Earl Grey, scones und clotted cream hätteich kein Wort herausgebracht. Erst als ich vor Frederick und Lavinia stand, begriff ich, dass Thomas niemals wieder mit mir sprechen, lachen und tanzen, mich niemals wieder in die Arme nehmen und küssen würde. Das war unerträglich und doch gelang es mir, seinen Eltern das Unvermeidliche beizubringen, ohne vor Kummer zusammenzubrechen. Meine Sorge um Frederick verhinderte das. Ihn liebte ich, wie ich meinen eigenen Vater geliebt hatte, und er sah in mir vom Augenblick unserer ersten Begegnung an die Frau, die seinen Sohn glücklich machte. Wir verstanden uns. Meist reichte ein Blick, ein kleines Wort, und schon zwinkerten wir uns zu und lachten über Dinge, die nicht einmal Thomas verstand.
Und auch jetzt begriff Frederick, weshalb ich so ruhig blieb. Er nickte, stand auf, nahm mich in den Arm und verließ das Zimmer, schleppend, mit gebeugtem Rücken. Bis zum Abend blieb er in seinem Büro, wo er Stunde um Stunde Fotografien seines Sohnes betrachtete und in dessen alten Schulheften blätterte. Gelegentlich hörte ich ihn auflachen, öfter vernahm ich sein Schluchzen. Als er endlich herauskam, setzte er sich ins Wohnzimmer und bat seine Frau und mich zu sich. Wir sprachen über Thomas und die Dinge, die er geliebt hatte. Bittersüß war das und ich hielt tapfer an mich. Wäre ich in Tränen ausgebrochen, Frederick hätte diesen Tag kaum überstanden. Mein Schwiegervater und ich waren uns Halt und Trost.
Lavinia aber verzieh mir meine scheinbare Ruhe nicht, obwohl sie mich doch in den Jahren zuvor bei jeder Gelegenheit kritisiert hatte für meine mangelnde Zurückhaltung. Von Anfang an fand sie mich zu laut, zu wild, zu wenig damenhaft. Sie hatte sich für ihren einzigen Sohn mehr erhofft; wenigstens einen Adelstitel hätte ich mitbringen müssen, wenn ich schon nicht reich und schön war. Sie scheute sich nicht, Thomas einmal im Beisein meiner Großmutter vorzuschlagen, er solle sich von mir trennen. Thomas war so wütend, er wäre in derselben Nacht noch mit mir davongegangen, hätte ich ihm nicht weisgemacht, mir bedeute die Missachtung seiner Mutter nichts, solange ich nur seine und Fredericks Liebe hätte. Dass Lavinia sein Verbleiben nur mir zu verdanken hatte, hat sie nie begriffen.
Wir blieben also, doch zogen wir zwei Straßen weiter in unser eigenes Häuschen. Was natürlich meine Schuld war, davon war Lavinia nicht abzubringen. Überall erzählte sie, es sei meine Habgier, die nach einem eigenen Haushalt verlangte, obwohl die Geschäfte der Familie nicht mehr so gut liefen. Ihr Zorn auf mich ging so weit, dass sie zugab, weniger Geld zu haben als noch vor einigen Jahren – wer Lavinia kannte, staunte. Und wer Thomas und mich kannte, schüttelte still den Kopf und ging seiner Wege. Allein die Vorstellung, Thomas nähme mehr von seinem Vater als das Gehalt, das er als Leiter der Brauerei verdiente, war absurd. Vater wie Sohn waren bescheiden in ihren Ansprüchen und alles erarbeiteten sie sich hart; nichts wollten sie sich schenken lassen.
Frederick Thomas Davies hatte aus einem nicht eben üppigen Erbe genügend erwirtschaftet, um sich und seiner Familie ein bequemes Leben in Penzance zu ermöglichen; er hatte investiert in die Eisenbahn ebenso wie in die umliegenden Kupfer- und Zinnminen und er hatte eine Brauerei gegründet, die schon im Sommer 1910, da Thomas und ich heirateten, als einzige Einnahmequelle verblieben war. Eine Quelle, die nur noch schwach tröpfelte, nachdem der Krieg ins zweite Jahr ging. Was Frederick nicht daran hinderte, Geld für Lazarette zu spenden und einen Verein für Kriegswaisen zu gründen, den er großzügig unterstützte. Lavinia sonnte sich in der Anerkennung, die er dafür erhielt, warf ihm aber dennoch Tag für Tag vor, er würde sie der Armut überantworten. So lange klagte und schimpfte sie, dass ich meinen Mann während seines vorletzten Fronturlaubs vor vollendete Tatsachen stellte: Ich hatte das Häuschen gekündigt und war zurückgezogen in die Davies’sche Villa, was für uns alle billiger kam. Was Lavinia wieder nicht recht war – nun behauptete sie, ich sei mir zu fein gewesen, um mit nur einer Küchenhilfe meinen kinderlosen Haushalt zu führen. Wie ich es auch versuchte, es gelang mir in elf Jahren nicht, von meiner Schwiegermutter nur ein einziges Lob zu erhalten. Das Leben mit ihr war eine Qual.
Weshalb ich nun – am 17. März 1921 – am Bahnsteig stand und auf den morgendlichen Cornish Riviera Express wartete, der mich in sieben Stunden nach London bringen würde. Ich hielt es keinen Tag länger unter Lavinias Dach aus, obwohl ich kaum wusste, wie ich mich durchbringen sollte. Widerwillig hatte sie mir gestattet, meinen Schmuck behalten zu dürfen. Schmuck, der mehr sentimentalen denn finanziellen Wert hatte. Meine beiden Koffer hatte sie in ihrem Misstrauen mehrfach kontrolliert, zuletzt heute Morgen, als Mr Jones bereits mit seinem Brauereikarren auf mich wartete. Ich denke, sie war maßlos enttäuscht, nichts darin zu finden, was nicht mir gehörte. Wortlos hatte sie sich umgedreht.
In meiner Börse ruhte all mein Geld in Höhe von fünf Pfund Sterling, zwei Shilling und einem Penny. Geld, das bei äußerster Sparsamkeit und billigster Unterkunft vier Wochen hinreichen würde. Dazu besaß ich neben meinem Schmuck ein Frisierset aus Perlmutt, zwei Abendkleider, fünf Paar Schuhe, zwei Mäntel, vier Tageskleider, vier Blusen, zwei Röcke und eine Sammlung Wäsche und Strümpfe; alles hoffnungslos veraltet und ein wenig abgetragen. Das war mein gesamter Besitz und der sollte mich nach Nizza bringen. Ich hätte vor Sorge vergehen müssen und doch hatte ich mich lange nicht so frei und zuversichtlich gefühlt. Fort von Penzance zu kommen, war mir vieles wert.
Was sollte mich hier auch halten? Als Frederick vor vier Wochen endlich von seinem Leid erlöst worden war, hatte Lavinia mir in aller Deutlichkeit klargemacht, welche Belastung mein Anblick für sie sei. Eine Stelle solle ich mir suchen, sie könne mich keinesfalls länger unterhalten. Und ich versuchte mein Glück überall, bot mich als Lehrerin an, als Verkaufskraft oder Sekretärin. Aber den einen war ich zu jung, den anderen zu alt und allen zu unerfahren. Ich war kurz davor, das einzige Angebot anzunehmen, das ich erhalten hatte, und mich als Haushälterin bei einem Vikar in St. Ives für kaum mehr als Kost und Logis zu verdingen, als ein Brief aus Frankreich eintraf. Meine frühere Pensionatskameradin Florence schrieb mir aus Nizza und bat mich, sie zu besuchen. Ich sei die Einzige, der sie vertrauen könne, und unbedingt bedürfe sieeiner Gefährtin wie mir.
Florence Ward, verheiratete Smith-Babington, glaubte Anlass zu haben, an der Treue ihres Mannes Albert zweifeln zu müssen. Sehr ausführlich beschrieb sie ihre Lebensumstände und besonders detailliert ging sie auf die Peinlichkeit ein, die sie würde durchleben müssen, sollte sie wahrhaftig eine betrogene Ehefrau sein. Aus diesen Zeilen sprach weniger enttäuschte Liebe als verletzter Stolz.
Ich staunte, dass sie ausgerechnet mich angeschrieben hatte, denn wir waren niemals enge Freundinnen gewesen. Flossie war als junges Mädchen eine recht anstrengende Person, die mit übertriebener Munterkeit von ihrem mangelnden Interesse an anderen Menschen ablenkte. Mit ihr ließ sich hervorragend feiern, aber dann sehnte man sich nach guten Gesprächen und Stille, die in Flossies Nähe nicht zu erwarten waren. Unter anderen Umständen hätte ich diesen Brief mit einigen tröstenden Floskeln beantwortet, beiseitegelegt und vergessen. So jedoch, Lavinias ständigen Vorwürfen ausgesetzt, erschien mir die Aussicht auf einen Aufenthalt an der Riviera verführerisch. Flossies Angebot, Anreise und Hotel zu bezahlen, tat alles Weitere. Ich schrieb noch am selben Tag, ich würde mich auf den Weg machen, sobald ich die Zugtickets in Händen hielte, und wahrhaftig trafen diese per Kurier schon fünf Tage später bei mir ein. Flossie hatte sich nicht lumpen lassen: Sie hatte mich auf den Calais-Mediterranée Express gebucht, und das Erster Klasse.
Mit lautem Tuten und Schnaufen fuhr der Cornish Riviera ein und mich packte ein längst vergessenes Reisefieber. Als meine Eltern noch lebten, hatte ich einiges gesehen von der Welt; ich hatte es geliebt, mit Mama und Papa Meere, Berge und Städte zu entdecken.
Später malten Thomas und ich uns aus, wie wir all diese Plätze gemeinsam aufsuchen würden, wenn seine Arbeit nur endlich die Zeit dafür ließe. Nach Paris wollten wir,nach Venedig, wir wollten Florenz besuchen und Wien und Madrid, von einer Schifffahrt auf dem Rhein träumten wir und von den griechischen Inseln, Troja und den Pyramiden. Doch nie hatten wir es weiter geschafft als bis nach London und Edinburgh. Immerhin das.
Als ich in meinem Abteil saß und die Landschaft an mir vorbeiraste, nahm ich mir vor, einen Weg zu finden, all diese Orte zu besuchen. Das hätte Thomas gefreut. Vielleicht hatte ich Glück und fand eine von diesen überkandidelten Amerikanerinnen, die glaubten, sie müssten eine Gesellschaftsdame bei sich haben, um in Europa angemessen auftreten zu können. Oder eine reiche Familie, die eine Chaperone für ihre halbwüchsige Tochter suchte. In Nizza tummelten sich längst wieder all jene, denen Krieg und Wirtschaftsnot nichts hatten anhaben können. Oder die dank dieser Katastrophen überhaupt erst ihr Vermögen gemacht hatten. Unter diesen Menschen musste irgendwer sein, der die Dienste einer äußerst respektablen Witwe von dreißig Jahren benötigte, zumal diese Witwe gesegnet war mit umfassenden Kenntnissen in Kunst, Literatur und Sprachen und, wenn auch verarmt, wusste, wie man sich in der guten Gesellschaft zu benehmen hatte.
Ich ahnte nicht, auf was ich mich einließ.