Demenz ist ein Elend – Teil eins


Vor etwas mehr als zehn Jahren, als ich noch unter Michou loves Vintage übers Nähen, Stricken, Schnittzeichnen und den Alltag bloggte, habe ich auch über meinen Vater geschrieben. Genauer gesagt habe ich darüber gesprochen, wie es ihm und wie es mir ging, denn mein Vater lag im Krankenhaus und es war zu Beginn unklar, was er hatte.
Nicht lange allerdings, denn es war Krebs und es blieben uns sechs Wochen, um das zu begreifen. Es ging nicht gut aus und war auch nicht eine Minute lang erträglich. Ich stolperte der Erkenntnis und meinen Gefühlen hinterher und weil ich zu diesem Zeitpunkt schon fast alles schreibend mit mir ausmachte (wenn ich mich ärgerte oder amüsierte, fand das als Anekdote Eingang in meinem Blog), fing ich nach einigem Zögern an, auch über Papa zu schreiben.

Was ich schrieb, mal länger, mal kürzer, manches, was ich später löschte, vieles, was ich stehen ließ, schrieb ich immer ein oder zwei Tage nach dem betreffenden Ereignis – so lange brauchte es immer, um wirklich und wahrhaftig zu verstehen, was gerade vor sich ging und welche Bedeutung es hatte.

Dann, nachdem mein Vater gestorben war, versuchte ich, das alles zu erzählen; ich hatte mittlerweile erlebt, wie wichtig dieses öffentliche Begleitung dieses Abschieds nicht nur für mich, sondern auch für viele Leserinnen war. Weil sie dasselbe erlebten oder erlebt hatten und es niemanden gab, der mit ihnen darüber hätte reden wollen (das erleben viel zu viele in dieser Situaton; man fällt den Leuten so lästig, nicht wahr?). Oder weil sie sich der eigenen Trauer schlechter stellen konnten und es half, darüber zu lesen. Weil sie das Gefühl hatten, sie müssten längst mit dem Trauern durchsein. Die Gründe waren vielfältig und doch ähnlich und sie führten dazu, dass ich sehr viele Kommentare und sehr viele Mails erhielt. Die Lebens- und Todesgeschichten anderer zu lesen und darauf zu antworten – das war auch für mich sehr hilfreich, vor allem in den letzten Tagen meines Vaters, als ich mich darauf einstellen musste, was unvermeidlich war.
Wie gesagt, ich hatte all das einmal vollständig aufschreiben wollen, das Gute wie das Schlechte, aber irgendwann brach ich ab; warum kann ich nicht einmal sagen.

Das war nun eine lange Einführung, die eigentlich nur zeigen soll, mir selbst auch zeigen soll: Es ist ok, über die Eltern zu sprechen. Weil all die Sorge, der Frust, die Trauer – was auch immer es ist, es muss irgendwohin und es hat seinen Platz in dieser Gesellschaft. Sollte es zumindest haben. Und so geht es nun um die Demenz meiner Mutter, die zwar lebt, aber nicht mehr da ist, sieht man von gelegentlichen Sekunden ab, in denen sie weiß, wer ich bin oder wer mein Mann ist. Sekunden, nicht Minuten. Gelegentlich und nicht oft. Ihrer Würde tut es keinen Abbruch, wenn ich erzähle – ob heute oder ein anderes Mal, wie es um sie steht, was sie tut und sagt. Ich kann sie nicht mehr fragen, ob es ihr recht ist; aber meinem Vater war es damals sehr recht und meiner Mutter ebenso; ich habe keinen Anlass zu glauben, es könnte nun anders sein.

Aber man sieht, ich rede dennoch drumherum, vielleicht doch in der Hoffnung, dass sowieso niemand bis hierher liest. Weshalb auch? Nun vielleicht, weil es anderen – also dir – genauso geht. Oder gehen könnte. Weil du jemanden kennst, der unter Demenz leidet. Weil du pflegebedürftige Eltern hast. Weil dein Verhältnis zu deiner Mutter ähnlich schwierig ist wie das zwischen meiner Mutter un mir. Wieder gibt es tausend Gründe, vielleicht bist du einfach nur neugierig und das ist gut so.

Demenz also. Frag mich nicht, welche Form meine Mutter hat – es war von Alzheimer die Rede, von einem Schlaganfall, der das Gehirng geschädigt hat, und von anderen Formen, die ich kaum kenne. Man weiß es nicht genau und es ist auch gleichgültig. Was diese Demenz nicht ist, ist viel wichtiger.

Sie ist nämlich nicht einfach nur das große Vergessen, als das sie immer wieder dargestellt wird in Filmen und Büchern. Die kennen wir alle, nicht wahr? Da werden – oft ganz niedlich anzusehende – ältere Herrschaften gezeigt, die kindlich-liebenswürdig profunde Weisheiten von sich geben, weil ihnen ja die große, böse Welt gleichgültig geworden ist und somit nicht länger Ansehen und Geld zählen, sondern Liebe und Wärme. Da werden dann Jugenderinnerungen gelebt und Puppen gestreichelt, da wird der Sohn auf einmal als sein Vater erkannt, als der noch jung und schön war. Putzig auch, wie die alten Leutchen mit bunten Socken rumlaufen oder sich bunt anmalen oder selbstvergessen durch die Welt trampen, bis sie am Meer sind. Immer können sie sich ausdrücken und wirken eher wie naive Hippiekinder als demente Senioren.

Selbst, wenn Demenz Thema in Dokumentationen ist, werden uns noch eher diejenigen erkrankten gezeigt, die gepflegt zurechtgemacht glücklich strahlen, wenn alte Schlager gespielt werden, die sie selbstverständlich fehlerfrei mitsingen können. Weil sie ja in der Vergangenheit leben. Das ist schön, natürlich, und das gibt es auch. Aber das ist nicht, was Demenz am Ende ausmacht. Sie kann sicherlich sehr lange sehr individuell ablaufen und wie weit sie geht, hängt bestimmt von vielen Faktoren ab; nicht zuletzt davon, ob die betreffende Person das Glück hat, zu versterben, bevor ihr Körper nicht einmal mehr weiß, wie Essen geschluckt oder eine Hand gehoben wird. Das ist etwas, was ich nicht wusste: dass Demenz eben auch tödlich ist, hält man lange genug durch.

Was meine größte Angst ist. Und mich deshalb dazu bringt, mich mit dem Gedanken zu quälen, wie sehr ich meiner Mutter das Ende herbeiwünsche. Wenn sie einmal etwas verständlich äußern kann – und dazu müssen sehr glücklich sowohl die körperliche wie die geistige Fähigkeit zeitgleich günstig zusammentreffen – dann macht sie mir klar, sie wünschte, es wäre vorbei. Aber wie kann man seiner Mutter den Tod wünschen, ohne sich wie der schlechteste Mensch der Welt zu fühlen? Da hilft es auch nicht so viel, dass andere, die dasselbe durchgemacht haben, sagen, es wäre absolut ok, das zu wünschen und zu hoffen, denn Demenz ist ein widerliches Drecksvieh, das ziemlich bald kaum etwas von dem Menschen übrig lässt, den man kannte.