Das Ende der goldenen Zeit


Freitag, 2. Mai 1930

Ich weigere mich entschieden, Trübsal zu blasen. Es ist doch so, dass -«
»Dein Hund ist schon wieder fortgelaufen.«
»Goodness, Emma, hörst du mir bitte zu? Ist es zu viel verlangt von einer liebenden Nichte, die -«
»Was, wenn dein Hund -«
»Bello. Mein Hund heißt Bello und -«
»Ich weiß wirklich nicht, weshalb du das arme Tier mit diesem Namen quälen musst.«
»Es ist ein deutscher Name.«
»Du bist nicht deutsch.«
»Mein Hund aber doch. Also, was ich sagen will: Ich weigere mich entschieden, mich vom allgemeinen Trübsinn anstecken zu lassen. Ja, es sieht düster aus und wir blicken in eine ungewisse Zukunft, aber ist das Grund genug, auf Champagner und ein wenig Vergnügen zu verzichten? Sicherlich nicht. Die Frage ist: Soll ich die Preise senken oder sie erhöhen?«
»Du solltest wirklich nach deinem Hund schauen. Am Ende jagt er das Wild und -«
»Emma, bitte. Was soll da schon geschehen? Mein Kleiner wird nicht mit einem Hirsch im Maul zurückkehren.«
»Aberr er kommt nicht zurück, deshalb solltest du -«
»Habe ich dir schon gesagt, welch eine elende Nervensäge du geworden bist? Goodness, du warst so ein braves -«
»- feiges, tollpatschiges und verhuschtes Dingelchen -«
»Nun ja, das auch, aber wenigstens hast du mir nicht ständig gesagt, was ich tun und lassen soll.«
»Eben jetzt hast du mich noch gefragt, was du mit deinen Preisen anfangen sollst. Wie kommst du überhaupt auf die Idee, sie zu erhöhen? In diesen Zeiten? Siehst du nicht, was geschieht?«
»Deswegen überlege ich, was zu tun ist. Schau, all diejenigen in meiner Kundschaft, die sich ihre Tanzstunden bislang abgespart haben, werden das kaum noch tun können. Aber wie weit muss ich mit meinem Preis herunter, dass es für sie überhaupt noch infrage kommt? Wäre es da nicht klüger, mich wieder auf die Vermögenden zu konzentrieren?«
»Dein Hund -«
»Bello interessiert gerade nicht. Weißt du, es ist erstaunlich, wie wenig dieser unsägliche Freitag und all die bankrotten Firmen den wahrlich Reichen etwas anhaben konnten. Einige haben sogar Gewinn gemacht. Wderlich, wenn man darüber denkt, meinst du nicht?«
»Sehr sogar.«
»Was nichts daran ändert, dass sie meine Kunden sind oder werden sollen. Wenn sie sich auch nicht für ihren Reichtum schämen, so ist es ihnen in der momentanen Lage doch lieber, wenn sie unter sich bleiben.«
»Weil sie die hungrigen Blicke nicht mehr ertragen können?«
»In der Tat. Es schmeckt der Kaviar besser, wenn man keine Rechtfertigung für seinen Genuss abgeben muss. Das sagen sie natürlich nicht. Sie spenden für die Armentafeln, machen betrübte Gesichter und bezeigen Mitleid.«
»Sybil, dein Hund -«
»Sie wollen also Exklusivität. Und was sichert das mehr als ein absurd hoher Preis?«
»Aber sind die nicht eh schon alle deine Kunden?«
»Viele, nicht alle.«
»Alle willst du gar nicht haben. Du willst ja nette Menschen im Arm halten.«
»Zu mir sind alle nett.«
»Aber nicht zu Alexej.«
»Das soll sich mal einer wagen. Nun, was denkst du?«
»Dass du Bello rufen solltest. Ich habe ihn seit zehn Minuten weder gesehen noch gehört.«
»Herrje, Emma, rufe du ihn doch, wenn du dir solche Sorgen machst. Ich versuche, ein vernünftiges Gespräch mit dir zu führen, in dem es nicht allein um meine, sondern um unsere Zukunft geht, und du hast nichts als den Hund ihm Sinn.«
»Was, wenn er einen Hasen erlegt? Das könnte ich ihm nicht verzeihen.«
»Eher wird es andersherum passieren.«
»Das wiederum würde ich dir nicht verzeihen. Ich mag deinen Hund.«
»Ich mag ihn auch, aber wie stehst du zu meiner Idee? Alexej ist unentschieden, weil er sich um unser Ansehen sorgt.«
»Was hält dich davon ab, den Reichen zehn Mark mehr abzuknöpfen und dafür einen kostenlosen Kurs anzubieten für mittellose Sekretärinnen und arbeitssuchende Verkäufer? Um die Stimmung in der Stadt zu heben und damit einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten?«
Sybil Gregorin blieb stehen, zog die Nichte in die Arme und küsste sie mehrmals auf beide Wangen. »Goodness, was ist nur los mit mir, dass ich nicht darauf gekommen bin? Genau das hätte mir sofort einfallen müssen. Da siehst du, wohin mich all die negativen Schlagzeilen und die andauernde Schwarzmalerei gebracht haben: Ich verliere meinen Sinn fürs Geschäft.«
»Solange du nur dein Mitleid für die Gemeinschaft nicht verlierst.« Emma lachte. »Oh, nun guck nicht so böse, ich werde dich wohl necken dürfen. Es ist ja nun wirklich nicht so, als läge dir das Wohl der Menschheit am Herzen.«
»Dafür schäme ich mich nicht, solange mir das Wohl derer wichtig ist, die mir lieb sind. Und ich habe nichts dagegen, auch anderen etwas Gutes zu tun. Was ich oft genug getan habe.«
»Das stimmt. Du bist geradezu ein Engel an Güte und Großzügigkeit. Mit offenen Händen gibst du und verteilst -«
»Du bist eine entsetzliche Nervensäge. Ich weiß nicht, wie James dich erträgt.«
»Er liebt mich.«
»Nur warum?«
»Weil ich eine besonders fleißige, brave und kluge Ehefrau bin.«
»Der Mann muss einen verdrehten Sinn für die Wirklichkeit haben, wenn er das noch immer glaubt.«
»Zu Punkt eins, liebe Tante -«
»Sag nicht Tante. Nicht einmal im Scherz. Du weißt, wie alt ich mich dann fühle.«
»Niemand würde glauben, du bist vierzig. Du -«
»Emma! Nenne diese Zahl nie wieder. Bello! Bellolein! Wo bist du, kleiner Rabauke?« Sybil lief einige rasche Schritte voran, blieb stehen und sah sich um. »Ich kann ihn wirklich nicht sehen. Bello? Bello?«
Emma drehte sich in die umgekehrte Richtung. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte sie in die Frühlingssonne, die das noch frische Grün des Waldes aufleuchten ließ. »Bello! Hierher! Sofort!«
Sybil rief noch einmal nach ihrem Hündchen; jetzt klang sie doch besorgt. »Am Ende hat er sich verlaufen. Ich habe es gleich gesagt, wir sollten nicht so weit rausfahren.«
»Du musst ihn halt auch im Auge behalten. Bello! Komm zurück!«
Eine Gruppe Wandervögel, artgerecht mit Klampfe, Fahne und kurzen Hosen, bog singend auf den Waldweg ein, auf dem Sybil und Emma zunehmend ungeduldiger nach Bello suchten. Sehr höflich verbeugte sich der vorderste der Jungmänner vor Sybil. Wie immer, war Emma mit der Tante unterwegs, war sie zweite Wahl. Was sie schon lange nicht mehr ärgerte. Sie lachte leise.
»Gnädige Frau, Sie suchen wohl nach einem Hund?«
Sybil war nicht in der Laune, einem pickligen Jüngling mit Charme zu begegnen. »Nein, so rufe ich nach meinem Gatten. Natürlich suche ich meinen Hund. Haben Sie ihn gesehen?«
Dass sie ihn so anging, obwohl er doch freundlich gefragt hatte, störte den Jungen nicht; ganz offensichtlich fand er Sybil reizend. »Wir haben einen gesehen. Einen kleinen weißen mit schwarzen Flecken.«
»Und Sie haben nicht daran gedacht, nach seiner Besitzerin Ausschau zu halten?«
»Das haben wir, gnädige Frau. Aber niemand war zu sehen.«
»Ihn mitzunehmen, fiel Ihnen nicht ein?«
Ein zweiter Junge trat nach vorne und streckte seine bandagierte Hand aus. »Haben wir, gnädige Frau. Davon wollte Ihr Hund nichts wissen. Er hat mich gebissen.«
Hinter ihm kicherten drei weitere Jünglinge, ein vierter klimperte auf seiner Gitarre und sang dazu. »Davon wollt er nichts wissen, da hat er ihn gebissen, gebissen, gebissen, da hat -«
Sybil hob die Hand. »Vielen Dank, es reicht mit dem Gejaule. Wo finde ich meinen Hund?«
»Rechts entlang, gnädige Frau, und linker Hand in der kleinen Senke, da hat er eben noch gebuddelt.«
»Goodness, dann werde ich ihn schon wieder baden müssen. Nun, meine Herren, ich danke für die Auskunft. Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Lernen Sie singen.«
»Sybil, sei doch nicht so barsch«, wisperte Emma.
Die schöne Tante seufzte. »Ganz reizend, Ihre Bekanntschaft gemacht haben, die Herren. Wünsche weiterhin gute Wanderschaft oder was immer man in Ihren Kreisen wünscht.«
»Heil sagen wir, gnädige Frau.«
»Nationalsozialisten sind Sie?«
Entsetzt und empört wehren die Wandervögel ab. »Unseren Gruß gibt es viel länger. Die haben den geklaut, die miesen Schweine!«
Doch Sybil hatte bereits das Interesse verloren und stob an der Gruppe vorbei. »Bello! Bleib, wo du bist, ich komme!«
Emma folgte und da sie im Gegensatz zu ihrer Tante weniger Wert auf schönes denn auf solides Schuhwerk gelegt hatte, überholte sie sie recht bald und rannte über den mitunter noch sehr matschigen Pfad, dem Hündchen zu, das noch immer eifrig in der Erde wühlte.
»Bello, du kleines Biest, sofort hierher!«
Der Hund ignorierte die Aufforderung.
»Siehst du ihn?«, rief Sybil aus einiger Entfernung.
»Ja.«
»Geht es ihm gut?«
»Ziemlich. Bello, du bist ein Ferkel! Komm hierher, auf der Stelle.«
Das Hündchen genoß es sichtlich, im morastigen Boden zu wühlen und an Ästen zu zerren. Über und über war er verdreckt und kurz nur schaute er zu Emma und entschied, erst seine Beute auszugraben, bevor er ihrem Befehl Folge leistete.
»Bello, jetzt! Hier!«
Ob es Emmas entschiedener Ton war oder die Tatsache, dass Bello die begehrte Wurzel endlich abgerissen hatte, blieb ungeklärt, doch das Hündchen trabte heran mit glänzenden Augen und wehenden Ohren, im Maul die erdige Wurzel.
»Aus, Bello, lass das fallen!«
Bello hielt inne, legte den Kopf schief und raste dann an Emma vorbei zu Sybil, die, obwohl sie doch in ein entzückendes neues Frühjahrskostüm gekleidet war, sich tief zu ihm beugte und zuließ, dass er seinen schmutzigen Kopf gegen ihre teuren Seidenstrümpfe presste.
»Mein lieber Rabauke, wie siehst du nur aus? Wer ist ein böser Junge? Na, wer ist ein böser Junge?«
»Ich glaube nicht, dass er sich demnächst besser benimmt, wenn du ihn dermaßen anhimmelst. Wieso warst du eigentlich so garstig zu den Wandervögeln?«
»Ach, ich kann all diese Vereinsmeier nicht ausstehen, ob es nun Pfadfinder sind oder Wandervögel oder Parteigänger von wem auch immer. Stell dir nur vor, wie schrecklich es sein muss, im Gleichschritt und blödsinnig trällernd durch die Heide zu stampfen.«
»Du hättest ihnen wenigstens danken sollen.«
»Goodness, Emma, die Jungs haben sich das Vergnügen nicht nehmen lassen, mich von oben bis unten mit glasigen Äugelchen anzustarren. Wenn jemand Dank verdient hätte, dann wohl ich. Bello, Schätzchen, nun lass das grässliche Ding endlich los. Gib es mir. Loslassen, sage ich. Bello. Aus. So ist es brav.« Lächelnd richtete Sybil sich auf, in der einen Hand Bellos Leine, die sie nicht wieder loslassen würde. In der anderen Hand die Wurzel, von der Erde rieselte.
Eben wollte sie sie ins Gebüsch werfen, da schrie Emma leise auf.
»Herrje, was ist denn nun wieder?«
»Bleib ganz ruhig, ja? Kein Grund, dich zu ekeln, du trägst ja Handschuhe. Sag, hast du ein Einkaufsnetz bei dir?«
»Bitte? Du sprichst in Rätseln.«
»Hast du einen Beutel?«
»Ich bin nun wahrlich nicht die Sorte Frau, die mit einem Einkaufsnetz durch die Gegend rennt. Wirklich, Emma -«
»Ist ja gut.« Emma überlegte nur kurz, dann nahm sie ihr Halstuch ab, schlug es auf und legte es um die rechte Hand. Sie schluckte und griff nach der Wurzel, wickelte sie schnell ein. Schüttelte sich. »Igitt. Aber was muss, das muss, nicht wahr?«
»Was ist denn los?«
Doch Emma antwortete nicht. Sie lief zu der Senke, in der Bello gebuddelt hatte. Vorsichtig näherte sie sich, die Schultern bis an die Ohren hochgezogen und mit angehaltenem Atem. Bestimmt war es nur Einbildung, bestimmt …
Doch unter einem umgestürzten Baum, zwischen halb zerfallenem Herbstlaub und feuchter Erde lag ein Mensch. Oder was einmal ein Mensch gewesen sein musste. Emma schüttelte sich und rannte zurück.
»Wir müssen zum Wagen, sofort. Bring mich ins Kommissariat.«
Ich weigere mich entschieden, Trübsal zu blasen. Es ist doch so, dass -«
»Dein Hund ist schon wieder fortgelaufen.«
»Goodness, Emma, hörst du mir bitte zu? Ist es zu viel verlangt von einer liebenden Nichte, die -«
»Was, wenn dein Hund -«
»Bello. Mein Hund heißt Bello und -«
»Ich weiß wirklich nicht, weshalb du das arme Tier mit diesem Namen quälen musst.«
»Es ist ein deutscher Name.«
»Du bist nicht deutsch.«
»Mein Hund aber doch. Also, was ich sagen will: Ich weigere mich entschieden, mich vom allgemeinen Trübsinn anstecken zu lassen. Ja, es sieht düster aus und wir blicken in eine ungewisse Zukunft, aber ist das Grund genug, auf Champagner und ein wenig Vergnügen zu verzichten? Sicherlich nicht. Die Frage ist: Soll ich die Preise senken oder sie erhöhen?«
»Du solltest wirklich nach deinem Hund schauen. Am Ende jagt er das Wild und -«
»Emma, bitte. Was soll da schon geschehen? Mein Kleiner wird nicht mit einem Hirsch im Maul zurückkehren.«
»Aberr er kommt nicht zurück, deshalb solltest du -«
»Habe ich dir schon gesagt, welch eine elende Nervensäge du geworden bist? Goodness, du warst so ein braves -«
»- feiges, tollpatschiges und verhuschtes Dingelchen -«
»Nun ja, das auch, aber wenigstens hast du mir nicht ständig gesagt, was ich tun und lassen soll.«
»Eben jetzt hast du mich noch gefragt, was du mit deinen Preisen anfangen sollst. Wie kommst du überhaupt auf die Idee, sie zu erhöhen? In diesen Zeiten? Siehst du nicht, was geschieht?«
»Deswegen überlege ich, was zu tun ist. Schau, all diejenigen in meiner Kundschaft, die sich ihre Tanzstunden bislang abgespart haben, werden das kaum noch tun können. Aber wie weit muss ich mit meinem Preis herunter, dass es für sie überhaupt noch infrage kommt? Wäre es da nicht klüger, mich wieder auf die Vermögenden zu konzentrieren?«
»Dein Hund -«
»Bello interessiert gerade nicht. Weißt du, es ist erstaunlich, wie wenig dieser unsägliche Freitag und all die bankrotten Firmen den wahrlich Reichen etwas anhaben konnten. Einige haben sogar Gewinn gemacht. Wderlich, wenn man darüber denkt, meinst du nicht?«
»Sehr sogar.«
»Was nichts daran ändert, dass sie meine Kunden sind oder werden sollen. Wenn sie sich auch nicht für ihren Reichtum schämen, so ist es ihnen in der momentanen Lage doch lieber, wenn sie unter sich bleiben.«
»Weil sie die hungrigen Blicke nicht mehr ertragen können?«
»In der Tat. Es schmeckt der Kaviar besser, wenn man keine Rechtfertigung für seinen Genuss abgeben muss. Das sagen sie natürlich nicht. Sie spenden für die Armentafeln, machen betrübte Gesichter und bezeigen Mitleid.«
»Sybil, dein Hund -«
»Sie wollen also Exklusivität. Und was sichert das mehr als ein absurd hoher Preis?«
»Aber sind die nicht eh schon alle deine Kunden?«
»Viele, nicht alle.«
»Alle willst du gar nicht haben. Du willst ja nette Menschen im Arm halten.«
»Zu mir sind alle nett.«
»Aber nicht zu Alexej.«
»Das soll sich mal einer wagen. Nun, was denkst du?«
»Dass du Bello rufen solltest. Ich habe ihn seit zehn Minuten weder gesehen noch gehört.«
»Herrje, Emma, rufe du ihn doch, wenn du dir solche Sorgen machst. Ich versuche, ein vernünftiges Gespräch mit dir zu führen, in dem es nicht allein um meine, sondern um unsere Zukunft geht, und du hast nichts als den Hund ihm Sinn.«
»Was, wenn er einen Hasen erlegt? Das könnte ich ihm nicht verzeihen.«
»Eher wird es andersherum passieren.«
»Das wiederum würde ich dir nicht verzeihen. Ich mag deinen Hund.«
»Ich mag ihn auch, aber wie stehst du zu meiner Idee? Alexej ist unentschieden, weil er sich um unser Ansehen sorgt.«
»Was hält dich davon ab, den Reichen zehn Mark mehr abzuknöpfen und dafür einen kostenlosen Kurs anzubieten für mittellose Sekretärinnen und arbeitssuchende Verkäufer? Um die Stimmung in der Stadt zu heben und damit einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten?«
Sybil Gregorin blieb stehen, zog die Nichte in die Arme und küsste sie mehrmals auf beide Wangen. »Goodness, was ist nur los mit mir, dass ich nicht darauf gekommen bin? Genau das hätte mir sofort einfallen müssen. Da siehst du, wohin mich all die negativen Schlagzeilen und die andauernde Schwarzmalerei gebracht haben: Ich verliere meinen Sinn fürs Geschäft.«
»Solange du nur dein Mitleid für die Gemeinschaft nicht verlierst.« Emma lachte. »Oh, nun guck nicht so böse, ich werde dich wohl necken dürfen. Es ist ja nun wirklich nicht so, als läge dir das Wohl der Menschheit am Herzen.«
»Dafür schäme ich mich nicht, solange mir das Wohl derer wichtig ist, die mir lieb sind. Und ich habe nichts dagegen, auch anderen etwas Gutes zu tun. Was ich oft genug getan habe.«
»Das stimmt. Du bist geradezu ein Engel an Güte und Großzügigkeit. Mit offenen Händen gibst du und verteilst -«
»Du bist eine entsetzliche Nervensäge. Ich weiß nicht, wie James dich erträgt.«
»Er liebt mich.«
»Nur warum?«
»Weil ich eine besonders fleißige, brave und kluge Ehefrau bin.«
»Der Mann muss einen verdrehten Sinn für die Wirklichkeit haben, wenn er das noch immer glaubt.«
»Zu Punkt eins, liebe Tante -«
»Sag nicht Tante. Nicht einmal im Scherz. Du weißt, wie alt ich mich dann fühle.«
»Niemand würde glauben, du bist vierzig. Du -«
»Emma! Nenne diese Zahl nie wieder. Bello! Bellolein! Wo bist du, kleiner Rabauke?« Sybil lief einige rasche Schritte voran, blieb stehen und sah sich um. »Ich kann ihn wirklich nicht sehen. Bello? Bello?«
Emma drehte sich in die umgekehrte Richtung. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte sie in die Frühlingssonne, die das noch frische Grün des Waldes aufleuchten ließ. »Bello! Hierher! Sofort!«
Sybil rief noch einmal nach ihrem Hündchen; jetzt klang sie doch besorgt. »Am Ende hat er sich verlaufen. Ich habe es gleich gesagt, wir sollten nicht so weit rausfahren.«
»Du musst ihn halt auch im Auge behalten. Bello! Komm zurück!«
Eine Gruppe Wandervögel, artgerecht mit Klampfe, Fahne und kurzen Hosen, bog singend auf den Waldweg ein, auf dem Sybil und Emma zunehmend ungeduldiger nach Bello suchten. Sehr höflich verbeugte sich der vorderste der Jungmänner vor Sybil. Wie immer, war Emma mit der Tante unterwegs, war sie zweite Wahl. Was sie schon lange nicht mehr ärgerte. Sie lachte leise.
»Gnädige Frau, Sie suchen wohl nach einem Hund?«
Sybil war nicht in der Laune, einem pickligen Jüngling mit Charme zu begegnen. »Nein, so rufe ich nach meinem Gatten. Natürlich suche ich meinen Hund. Haben Sie ihn gesehen?«
Dass sie ihn so anging, obwohl er doch freundlich gefragt hatte, störte den Jungen nicht; ganz offensichtlich fand er Sybil reizend. »Wir haben einen gesehen. Einen kleinen weißen mit schwarzen Flecken.«
»Und Sie haben nicht daran gedacht, nach seiner Besitzerin Ausschau zu halten?«
»Das haben wir, gnädige Frau. Aber niemand war zu sehen.«
»Ihn mitzunehmen, fiel Ihnen nicht ein?«
Ein zweiter Junge trat nach vorne und streckte seine bandagierte Hand aus. »Haben wir, gnädige Frau. Davon wollte Ihr Hund nichts wissen. Er hat mich gebissen.«
Hinter ihm kicherten drei weitere Jünglinge, ein vierter klimperte auf seiner Gitarre und sang dazu. »Davon wollt er nichts wissen, da hat er ihn gebissen, gebissen, gebissen, da hat -«
Sybil hob die Hand. »Vielen Dank, es reicht mit dem Gejaule. Wo finde ich meinen Hund?«
»Rechts entlang, gnädige Frau, und linker Hand in der kleinen Senke, da hat er eben noch gebuddelt.«
»Goodness, dann werde ich ihn schon wieder baden müssen. Nun, meine Herren, ich danke für die Auskunft. Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Lernen Sie singen.«
»Sybil, sei doch nicht so barsch«, wisperte Emma.
Die schöne Tante seufzte. »Ganz reizend, Ihre Bekanntschaft gemacht haben, die Herren. Wünsche weiterhin gute Wanderschaft oder was immer man in Ihren Kreisen wünscht.«
»Heil sagen wir, gnädige Frau.«
»Nationalsozialisten sind Sie?«
Entsetzt und empört wehren die Wandervögel ab. »Unseren Gruß gibt es viel länger. Die haben den geklaut, die miesen Schweine!«
Doch Sybil hatte bereits das Interesse verloren und stob an der Gruppe vorbei. »Bello! Bleib, wo du bist, ich komme!«
Emma folgte und da sie im Gegensatz zu ihrer Tante weniger Wert auf schönes denn auf solides Schuhwerk gelegt hatte, überholte sie sie recht bald und rannte über den mitunter noch sehr matschigen Pfad, dem Hündchen zu, das noch immer eifrig in der Erde wühlte.
»Bello, du kleines Biest, sofort hierher!«
Der Hund ignorierte die Aufforderung.
»Siehst du ihn?«, rief Sybil aus einiger Entfernung.
»Ja.«
»Geht es ihm gut?«
»Ziemlich. Bello, du bist ein Ferkel! Komm hierher, auf der Stelle.«
Das Hündchen genoß es sichtlich, im morastigen Boden zu wühlen und an Ästen zu zerren. Über und über war er verdreckt und kurz nur schaute er zu Emma und entschied, erst seine Beute auszugraben, bevor er ihrem Befehl Folge leistete.
»Bello, jetzt! Hier!«
Ob es Emmas entschiedener Ton war oder die Tatsache, dass Bello die begehrte Wurzel endlich abgerissen hatte, blieb ungeklärt, doch das Hündchen trabte heran mit glänzenden Augen und wehenden Ohren, im Maul die erdige Wurzel.
»Aus, Bello, lass das fallen!«
Bello hielt inne, legte den Kopf schief und raste dann an Emma vorbei zu Sybil, die, obwohl sie doch in ein entzückendes neues Frühjahrskostüm gekleidet war, sich tief zu ihm beugte und zuließ, dass er seinen schmutzigen Kopf gegen ihre teuren Seidenstrümpfe presste.
»Mein lieber Rabauke, wie siehst du nur aus? Wer ist ein böser Junge? Na, wer ist ein böser Junge?«
»Ich glaube nicht, dass er sich demnächst besser benimmt, wenn du ihn dermaßen anhimmelst. Wieso warst du eigentlich so garstig zu den Wandervögeln?«
»Ach, ich kann all diese Vereinsmeier nicht ausstehen, ob es nun Pfadfinder sind oder Wandervögel oder Parteigänger von wem auch immer. Stell dir nur vor, wie schrecklich es sein muss, im Gleichschritt und blödsinnig trällernd durch die Heide zu stampfen.«
»Du hättest ihnen wenigstens danken sollen.«
»Goodness, Emma, die Jungs haben sich das Vergnügen nicht nehmen lassen, mich von oben bis unten mit glasigen Äugelchen anzustarren. Wenn jemand Dank verdient hätte, dann wohl ich. Bello, Schätzchen, nun lass das grässliche Ding endlich los. Gib es mir. Loslassen, sage ich. Bello. Aus. So ist es brav.« Lächelnd richtete Sybil sich auf, in der einen Hand Bellos Leine, die sie nicht wieder loslassen würde. In der anderen Hand die Wurzel, von der Erde rieselte.
Eben wollte sie sie ins Gebüsch werfen, da schrie Emma leise auf.
»Herrje, was ist denn nun wieder?«
»Bleib ganz ruhig, ja? Kein Grund, dich zu ekeln, du trägst ja Handschuhe. Sag, hast du ein Einkaufsnetz bei dir?«
»Bitte? Du sprichst in Rätseln.«
»Hast du einen Beutel?«
»Ich bin nun wahrlich nicht die Sorte Frau, die mit einem Einkaufsnetz durch die Gegend rennt. Wirklich, Emma -«
»Ist ja gut.« Emma überlegte nur kurz, dann nahm sie ihr Halstuch ab, schlug es auf und legte es um die rechte Hand. Sie schluckte und griff nach der Wurzel, wickelte sie schnell ein. Schüttelte sich. »Igitt. Aber was muss, das muss, nicht wahr?«
»Was ist denn los?«
Doch Emma antwortete nicht. Sie lief zu der Senke, in der Bello gebuddelt hatte. Vorsichtig näherte sie sich, die Schultern bis an die Ohren hochgezogen und mit angehaltenem Atem. Bestimmt war es nur Einbildung, bestimmt …
Doch unter einem umgestürzten Baum, zwischen halb zerfallenem Herbstlaub und feuchter Erde lag ein Mensch. Oder was einmal ein Mensch gewesen sein musste. Emma schüttelte sich und rannte zurück.
»Wir müssen zum Wagen, sofort. Bring mich ins Kommissariat.«