Als Hedwig hinter ihrer Chaperone Johanna von Heidekamp auf den Bahnsteig trat, hatte sie MĂĽhe, ihre Verärgerung nicht zu zeigen. Vor wenigen Augenblicken erst hatte sie erfahren, welche Route ihre Begleiterin gemeinsam mit dem Schwiegervater und dem Besitzer des ReisebĂĽros festgelegt hatte - und wie lange es dauern sollte, bis sie endlich in At-Tarif angekommen sein wĂĽrden. Anstatt ihrem verantwortungslosen und wortbrecherischem Ehemann nachzujagen, befand sie sich auf einer Erholungs- und Bildungsreise, die in den Augen der Gesellschaft durchaus standesgemäß erscheinen wĂĽrde. Vor allem dann, wenn sie an deren Ende gemeinsam mit John nach Bonn zurĂĽckkehrte, damit man annehmen durfte, sie wäre die meiste Zeit mit ihm unterwegs gewesen.Hedwig hatte nichts dagegen, wenn niemand zu genau erfĂĽhre, wie sehr sie hintergangen worden war, aber…
Aus dem einfachen Mädchen aus der Voreifel ist eine junge Frau geworden, die nicht nur hart in fremden Häusern gearbeitet hat, sondern mindestens so hart an sich selbst. Und sie hat GlĂĽck gehabt, denn immer wieder ist sie auf Menschen getroffen, die es entweder gut mir ihr meinten oder aber einen Vorteil daran sahen, ihr voranzuhelfen. Doch wenn sie sich von dem unerwarteten Aufstieg mehr Selbstbestimmung versprochen haben sollte, so wird sie schnell erkennen, dass auch eine Frau höheren Standes die engen Grenzen der Gesellschaft nicht ĂĽberschreiten darf. Eine Entscheidung, halb herzig getroffen, gilt, gleichgĂĽltig, was Herz und Verstand ihr raten ... Im zweiten Band der Hedwig-Trilogie steht nicht mehr der anstrengende Alltag der Dienstmädchen im Mittelpunkt, sondern die GefĂĽhlswelt einer sehr jungen Frau,…
Eine gute Woche war vergangen, seitdem Maximilian Alexander von Kattwill erfahren hatte, dass Hedwig mit John verlobt war, und noch immer wollte er sich an diese Tatsache nicht gewöhnen. Natürlich nicht; er liebte sie und war davon überzeugt, dass ihr Glück sonstwo liegen mochte, aber gewiss nicht bei seinem besten Freund. Vielleicht lag es auch nicht bei ihm, so vermessen war er nicht, das zu glauben. Doch eine Ehe mit John würde Hedwig nicht froh machen können. Nicht, bevor sie die Zeit erhalten hatte, sich fortzubilden und zu begreifen, wer sie eigentlich war. Und wenn sie das einmal begriffen haben würde, dann würde sie wohl kaum John heiraten wollen.
Aufbruch Dienstag, 14. September 1897 Dieser Dienstag entschied ihr Schicksal. Wobei Hedwig nicht an das Schicksal glaubte, sonst hätte sie gestern schon geahnt, was kommen wĂĽrde. Doch alles war gewesen, wie es immer war: nichts als Plackerei und Streit, Streit und Plackerei. Wie jeden Tag hatte sie von morgens fĂĽnf bis nachts um elf geschuftet und dafĂĽr nichts als Mutters wehleidige Klagen und Vaters betrunkene Beleidigungen erhalten. Und das billige Mitleid der Nachbarn, denen im Grunde gleichgĂĽltig war, wie es ihr ging. WĂĽrde es sie kĂĽmmern, dann wäre schon mal einer von ihnen dazwischengegangen, wenn Vater den GĂĽrtel schwang.Stattdessen hatten sie Verständnis fĂĽr ihn und mahnten Hedwig, sein Verhalten zu verzeihen. »Der hattet ja nicht leicht«, sagten sie, »mit dem lahmen Bein und deiner…