Autor: Andrea

  • Mord in Nizza / Erstes Kapitel

    Mord in Nizza / Erstes Kapitel

    Burning Bridges

    17. März 1921

    Am 17. März vor vier Jahren erreichte mich die Nachricht, die ich seit Ausbruch des Krieges befürchtet hatte: Per Telegramm teilte mir ein Lieutenant-Colonel Merriweather zu seinem tiefsten Bedauern mit, mein Ehemann Captain Thomas Daniel Davies sei auf dem Schlachtfeld in Frankreich gefallen.

    Ich stand in der Haustür, vor mir der Postbote, der etwas von Gott, Vaterland und Ehre murmelte, als ob das irgendetwas besser machte. Und wie all die anderen, die diese Nachricht erhielten, wusste ich auf seine Frage, ob er warten solle, nichts Besseres zu entgegnen als: »Keine Antwort, vielen Dank.« Was sollte ich dem Lieutenant-Colonel auch erwidern?

    Ich erinnere mich gut, wie ich die Türe leise schloss und George, den alten Butler der Davies’, bat, Tee für meine Schwiegereltern aufzubrühen und im Salon zu servieren.

    Ich wartete in der Halle, bis er zurückkam; ohne ihn und das nachmittägliche Ritual von Earl Greyscones und clotted cream hätte ich kein Wort herausgebracht. Erst als ich vor Frederick und Lavinia stand, begriff ich, dass Thomas niemals wieder mit mir sprechen, lachen und tanzen, mich niemals wieder in die Arme nehmen und küssen würde. Das war unerträglich und doch gelang es mir, seinen Eltern das Unvermeidliche beizubringen, ohne vor Kummer zusammenzubrechen. Meine Sorge um Frederick verhinderte das. Ihn liebte ich, wie ich meinen eigenen Vater geliebt hatte, und er sah in mir vom Augenblick unserer ersten Begegnung an die Frau, die seinen Sohn glücklich machte. Wir verstanden uns. Meist reichte ein Blick, ein kleines Wort, und schon zwinkerten wir uns zu und lachten über Dinge, die nicht einmal Thomas verstand.

    Und auch jetzt begriff Frederick, weshalb ich so ruhig blieb. Er nickte, stand auf, nahm mich in den Arm und verließ das Zimmer, schleppend, mit gebeugtem Rücken. Bis zum Abend blieb er in seinem Büro, wo er Stunde um Stunde Fotografien seines Sohnes betrachtete und in dessen alten Schulheften blätterte. Gelegentlich hörte ich ihn auflachen, öfter vernahm ich sein Schluchzen. Als er endlich herauskam, setzte er sich ins Wohnzimmer und bat seine Frau und mich zu sich. Wir sprachen über Thomas und die Dinge, die er geliebt hatte. Bittersüß war das und ich hielt tapfer an mich. Wäre ich in Tränen ausgebrochen, Frederick hätte diesen Tag kaum überstanden. Mein Schwiegervater und ich waren uns Halt und Trost.

    Lavinia aber verzieh mir meine scheinbare Ruhe nicht, obwohl sie mich doch in den Jahren zuvor bei jeder Gelegenheit kritisiert hatte für meine mangelnde Zurückhaltung. Von Anfang an fand sie mich zu laut, zu wild, zu wenig damenhaft. Sie hatte sich für ihren einzigen Sohn mehr erhofft; wenigstens einen Adelstitel hätte ich mitbringen müssen, wenn ich schon nicht reich und schön war. Sie scheute sich nicht, Thomas einmal im Beisein meiner Großmutter vorzuschlagen, er solle sich von mir trennen. Thomas war so wütend, er wäre in derselben Nacht noch mit mir davongegangen, hätte ich ihm nicht weisgemacht, mir bedeute die Missachtung seiner Mutter nichts, solange ich nur seine und Fredericks Liebe hätte. Dass Lavinia sein Verbleiben nur mir zu verdanken hatte, hat sie nie begriffen.

    Wir blieben also, doch zogen wir zwei Straßen weiter in unser eigenes Häuschen. Was natürlich meine Schuld war, davon war Lavinia nicht abzubringen. Überall erzählte sie, es sei meine Habgier, die nach einem eigenen Haushalt verlangte, obwohl die Geschäfte der Familie nicht mehr so gut liefen. Ihr Zorn auf mich ging so weit, dass sie zugab, weniger Geld zu haben als noch vor einigen Jahren – wer Lavinia kannte, staunte. Und wer Thomas und mich kannte, schüttelte still den Kopf und ging seiner Wege. Allein die Vorstellung, Thomas nähme mehr von seinem Vater als das Gehalt, das er als Leiter der Brauerei verdiente, war absurd. Vater wie Sohn waren bescheiden in ihren Ansprüchen und alles erarbeiteten sie sich hart; nichts wollten sie sich schenken lassen.

    Frederick Thomas Davies hatte aus einem nicht eben üppigen Erbe genügend erwirtschaftet, um sich und seiner Familie ein bequemes Leben in Penzance zu ermöglichen; er hatte investiert in die Eisenbahn ebenso wie in die umliegenden Kupfer- und Zinnminen und er hatte eine Brauerei gegründet, die schon im Sommer 1910, da Thomas und ich heirateten, als einzige Einnahmequelle verblieben war. Eine Quelle, die nur noch schwach tröpfelte, nachdem der Krieg ins zweite Jahr ging. Was Frederick nicht daran hinderte, Geld für Lazarette zu spenden und einen Verein für Kriegswaisen zu gründen, den er großzügig unterstützte. Lavinia sonnte sich in der Anerkennung, die er dafür erhielt, warf ihm aber dennoch Tag für Tag vor, er würde sie der Armut überantworten. So lange klagte und schimpfte sie, dass ich meinen Mann während seines vorletzten Fronturlaubs vor vollendete Tatsachen stellte: Ich hatte das Häuschen gekündigt und war zurückgezogen in die Davies’sche Villa, was für uns alle billiger kam. Was Lavinia wieder nicht recht war – nun behauptete sie, ich sei mir zu fein gewesen, um mit nur einer Küchenhilfe meinen kinderlosen Haushalt zu führen.

    Wie ich es auch versuchte, es gelang mir in elf Jahren nicht, von meiner Schwiegermutter nur ein einziges Lob zu erhalten. Das Leben mit ihr war eine Qual.

    Weshalb ich nun – am 17. März 1921 – am Bahnsteig stand und auf den morgendlichen Cornish Riviera Express wartete, der mich in sieben Stunden nach London bringen würde. Ich hielt es keinen Tag länger unter Lavinias Dach aus, obwohl ich kaum wusste, wie ich mich durchbringen sollte. Widerwillig hatte sie mir gestattet, meinen Schmuck behalten zu dürfen. Schmuck, der mehr sentimentalen denn finanziellen Wert hatte. Meine beiden Koffer hatte sie in ihrem Misstrauen mehrfach kontrolliert, zuletzt heute Morgen, als Mr Jones bereits mit seinem Brauereikarren auf mich wartete. Ich denke, sie war maßlos enttäuscht, nichts darin zu finden, was nicht mir gehörte. Wortlos hatte sie sich umgedreht.

    In meiner Börse ruhte all mein Geld in Höhe von fünf Pfund Sterling, zwei Shilling und einem Penny. Geld, das bei äußerster Sparsamkeit und billigster Unterkunft vier Wochen hinreichen würde. Dazu besaß ich neben meinem Schmuck ein Frisierset aus Perlmutt, zwei Abendkleider, fünf Paar Schuhe, zwei Mäntel, vier Tageskleider, vier Blusen, zwei Röcke und eine Sammlung Wäsche und Strümpfe; alles hoffnungslos veraltet und ein wenig abgetragen. Das war mein gesamter Besitz und der sollte mich nach Nizza bringen. Ich hätte vor Sorge vergehen müssen und doch hatte ich mich lange nicht so frei und zuversichtlich gefühlt. Fort von Penzance zu kommen, war mir vieles wert.

    Was sollte mich hier auch halten? Als Frederick vor vier Wochen endlich von seinem Leid erlöst worden war, hatte Lavinia mir in aller Deutlichkeit klargemacht, welche Belastung mein Anblick für sie sei. Eine Stelle solle ich mir suchen, sie könne mich keinesfalls länger unterhalten. Und ich versuchte mein Glück überall, bot mich als Lehrerin an, als Verkaufskraft oder Sekretärin. Aber den einen war ich zu jung, den anderen zu alt und allen zu unerfahren. Ich war kurz davor, das einzige Angebot anzunehmen, das ich erhalten hatte, und mich als Haushälterin bei einem Vikar in St. Ives für kaum mehr als Kost und Logis zu verdingen, als ein Brief aus Frankreich eintraf. Meine frühere Pensionatskameradin Florence schrieb mir aus Nizza und bat mich, sie zu besuchen. Ich sei die Einzige, der sie vertrauen könne, und unbedingt bedürfe sie einer Gefährtin wie mir.

    Florence Ward, verheiratete Smith-Babington, glaubte Anlass zu haben, an der Treue ihres Mannes Albert zweifeln zu müssen. Sehr ausführlich beschrieb sie ihre Lebensumstände und besonders detailliert ging sie auf die Peinlichkeit ein, die sie würde durchleben müssen, sollte sie wahrhaftig eine betrogene Ehefrau sein. Aus diesen Zeilen sprach weniger enttäuschte Liebe als verletzter Stolz.

    Ich staunte, dass sie ausgerechnet mich angeschrieben hatte, denn wir waren niemals enge Freundinnen gewesen. Flossie war als junges Mädchen eine recht anstrengende Person, die mit übertriebener Munterkeit von ihrem mangelnden Interesse an anderen Menschen ablenkte. Mit ihr ließ sich hervorragend feiern, aber dann sehnte man sich nach guten Gesprächen und Stille, die in Flossies Nähe nicht zu erwarten waren. Unter anderen Umständen hätte ich diesen Brief mit einigen tröstenden Floskeln beantwortet, beiseitegelegt und vergessen. So jedoch, Lavinias ständigen Vorwürfen ausgesetzt, erschien mir die Aussicht auf einen Aufenthalt an der Riviera verführerisch. Flossies Angebot, Anreise und Hotel zu bezahlen, tat alles Weitere. Ich schrieb noch am selben Tag, ich würde mich auf den Weg machen, sobald ich die Zugtickets in Händen hielte, und wahrhaftig trafen diese per Kurier schon fünf Tage später bei mir ein. Flossie hatte sich nicht lumpen lassen: Sie hatte mich auf den Calais-Mediterranée Express gebucht, und das Erster Klasse.

    Mit lautem Tuten und Schnaufen fuhr der Cornish Riviera ein und mich packte ein längst vergessenes Reisefieber. Als meine Eltern noch lebten, hatte ich einiges gesehen von der Welt; ich hatte es geliebt, mit Mama und Papa Meere, Berge und Städte zu entdecken.

    Später malten Thomas und ich uns aus, wie wir all diese Plätze gemeinsam aufsuchen würden, wenn seine Arbeit nur endlich die Zeit dafür ließe. Nach Paris wollten wir, nach Venedig, wir wollten Florenz besuchen und Wien und Madrid, von einer Schifffahrt auf dem Rhein träumten wir und von den griechischen Inseln, Troja und den Pyramiden. Doch nie hatten wir es weiter geschafft als bis nach London und Edinburgh. Immerhin das.

    Als ich in meinem Abteil saß und die Landschaft an mir vorbeiraste, nahm ich mir vor, einen Weg zu finden, all diese Orte zu besuchen. Das hätte Thomas gefreut. Vielleicht hatte ich Glück und fand eine von diesen überkandidelten Amerikanerinnen, die glaubten, sie müssten eine Gesellschaftsdame bei sich haben, um in Europa angemessen auftreten zu können. Oder eine reiche Familie, die eine Chaperone für ihre halbwüchsige Tochter suchte. In Nizza tummelten sich längst wieder all jene, denen Krieg und Wirtschaftsnot nichts hatten anhaben können. Oder die dank dieser Katastrophen überhaupt erst ihr Vermögen gemacht hatten. Unter diesen Menschen musste irgendwer sein, der die Dienste einer äußerst respektablen Witwe von dreißig Jahren benötigte, zumal diese Witwe gesegnet war mit umfassenden Kenntnissen in Kunst, Literatur und Sprachen und, wenn auch verarmt, wusste, wie man sich in der guten Gesellschaft zu benehmen hatte.

    Ich ahnte nicht, auf was ich mich einließ.

    Unter strömendem Regen erreichte der Cornish Riviera Express pünktlich um vier Uhr zehn den Bahnhof London Paddington. Es wimmelte von Geschäftsleuten, Bankiers, Kirchenmännern und Arbeitern; es drängten sich vornehme Damen neben Stenotypistinnen und abgehetzte Hausfrauen beäugten muntere Chormädchen. Dazwischen sorgten Bahnwärter und Gepäckträger dafür, dass alle und alles an den richtigen Ort kamen, was sie mit deutlicheren Worten taten, als es unser Bahnhofsvorsteher in Penzance für angemessen hielte. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mich freute, hier zu sein. Sicher, ich war müde nach der Reise und die beiden Sandwiches, die ich eingepackt hatte, hatten meinen Hunger kaum gestillt, aber in diesem Trubel spürte ich endlich wieder, was es hieß, zu leben. In dieser Stadt mochte alles Mögliche geschehen!

    Und es geschah. Leider. Der liebenswürdige Gepäckträger, der meinen Koffer aus dem Waggon hob, stellte sich keine drei Sekunden später als gemeiner Ganove heraus, der ohne ein weiteres Wort umdrehte und davonraste. Mit meinem Koffer! Ich kam mir albern vor, wie ich wahrhaftig die banalsten Worte hinter ihm herrief, die mir in den Sinn kamen: »Haltet den Dieb! Haltet ihn!«

    Es drehten sich zwar einige Menschen nach mir um und ein junger Herr unternahm sogar den Versuch, dem Räuber mein Gepäck abzujagen, aber der ließ sich nicht beirren, rannte eine beleibte Dame um und verschwand in der Menge. Vermutlich wäre ich in Tränen ausgebrochen, hätte ich nicht bemerkt, welchen meiner Koffer der Dieb erwischt hatte. Es verdutzte den an meine Seite geeilten Bahnhofsangestellten sehr, mich lachen zu hören; er befürchtete, er habe es mit einer Wahnsinnigen zu tun. »Madam, ich bitte Sie, nehmen Sie sich diesen Vorfall nicht zu Herzen. Ein Schlückchen Sherry sollte Ihnen guttun, wenn Sie mit mir kommen wollen?«

    »Wie überaus freundlich von Ihnen, vielen Dank. Aber es besteht kein Grund zur Sorge.«

    Misstrauisch musterte er mich von oben bis unten. »Ein Schock, Madam, kann –«

    »Nun, einen solchen dürfte den Dieb erwarten. Was meinen Sie: Wird er wohl meine Strümpfe stopfen und seiner Freundin schenken?« Wirklich fand ich die Vorstellung erheiternd, wie der Ganove meine Vorkriegsabendkleider und ein löchriges Hemdchen aus dem Koffer ziehen mochte.

    Damit drückte ich mein verbliebenes Gepäck an mich und gab es nicht mehr aus der Hand, bis ich gute zehn Minuten später an der Rezeption des Great Western Royal Hotels nach dem Zimmer fragte, das Flossie für mich gebucht hatte. Wieder erwies sich meine Schulfreundin als großzügig, denn sie hatte nicht nur ein Zimmer reserviert, sondern auch gleich Dinner und Frühstück geordert und dazu eine Nachricht für mich hinterlegt, in der sie mich aufforderte, es mir so gut gehen zu lassen, wie ich nur wolle; sie ahne ja, dass ich in zumindest unsicheren finanziellen Verhältnissen lebe.

    Damit verblüffte sie mich ein weiteres Mal: Ausgerechnet Flossie machte sich Gedanken um einen anderen Menschen als sich selbst? Und woher wusste sie von meinen Schwierigkeiten? Oder glaubte sie nur deshalb an finanzielle Schwierigkeiten, weil sie im Hinblick auf Vermögen und Status die bessere Partie gemacht hatte? Die Smith-Babingtons hatten ihre Finger seit Jahrzehnten in allem, was Geld brachte, und wenn der alte Smith-Babington auch nicht mehr als ein Baronet war, so war das doch immerhin ein Titel, den niemand in der Familie Davies hatte erringen können. Flossies Albert war ein ziemlicher Trottel und alles andere als eine Schönheit, aber gewiss hielt sie ihn für bedeutender, als sie es meinem Thomas zugestanden hätte – ein stiller, kluger Mann mit freundlichen Augen und einem drolligen Gesicht zählte nicht viel, wenn er kein Vermögen mitbrachte; da mochte er noch so warmherzig, witzig und wohlgesinnt sein.

    Aber da war noch etwas anderes: Vielleicht war ich überempfindlich, aber in Flossies Zeilen glaubte ich nicht nur die lässige Großzügigkeit einer Frau zu lesen, die mehr Geld hatte, als sie ausgeben konnte. Klang da nicht auch die Erwartung heraus, ich sei mit Annahme dieser Geschenke der Geberin verpflichtet? Ging es hier wirklich nur um Kameradschaft? War ihr ein Gespräch unter vier Augen so viel wert? Oder war ich durch Lavinias jahrelange Nörgelei zu sehr daran gewöhnt, keine Freundlichkeit zu erwarten?

    Mein Essen ließ ich mir auf dem Zimmer servieren und gegen neun Uhr schon löschte ich das Licht. Das Rattern der Nachtzüge schlich sich in meine Träume von Reisen und Abenteuern. Bester Laune schwang ich mich am nächsten Morgen aus dem Bett. Mein Zug sollte um drei Uhr vom Bahnhof Charing Cross abfahren und so brach ich früh genug auf, um mein Gepäck dort abzuladen und die National Gallery zu besuchen; eine Gelegenheit, die ich mir nicht entgehen lassen wollte, hing dort doch ein Gemälde meines Vaters.

    Die Fahrt nach Dover war dank des Erste-Klasse-Abteils um ein Vielfaches bequemer, als es die Fahrt nach London gewesen war. Spät am Abend legte die Fähre ab und auch die Überfahrt nach Frankreich verlief ohne jegliche Unannehmlichkeit; Seekrankheit kannte ich nicht und so schlief ich auch in dieser Nacht tief und fest. So fest, dass ich nicht einmal mitbekam, wie wir im Morgengrauen anlegten.

    Von Calais aus ging es in einem eleganten Salonwagen weiter nach Paris, wo wir gegen elf Uhr nachts eintrafen. Bis hierher hatte ich mich von Mitreisenden ferngehalten; ich wollte ungestört genießen, was ich sah und hörte, aß und trank. Es war kaum zu glauben, dass wir alle vor weniger als drei Jahren noch einen schrecklichen Krieg erlebt hatten, dem die meisten von uns bittere Opfer hatten bringen müssen. Die Damen und Herren in diesem Kompartiment waren teuer gekleidet und tranken Champagner, sie lachten und scherzten und unterhielten sich über Nichtigkeiten. Nur gelegentlich fiel einmal der Vorname eines Mannes, eine Stimme bebte, jemand seufzte und eine Sekunde lang herrschte Stille zwischen denen, die so sehr versuchten, ihr Leben neu einzurichten. Und ich saß äußerlich unbewegt auf meinem Platz und hoffte, es würde niemals vergessen werden, wie viel Unglück ein Krieg in unseren modernen Zeiten mit sich bringen würde. Das sei der Krieg gewesen, der alle Kriege beenden würde, so hieß es immer. Unsere Liebsten seien nicht umsonst gestorben, nie wieder würde die Welt es zulassen, so auseinandergerissen zu werden. Daran wollte ich mit aller Kraft glauben.

    Hinter mir saß ein junges Paar in seinen Flitterwochen; er Franzose, sie Deutsche. Wenn das möglich war, wenn zwei Menschen glücklich werden konnten, obwohl sie aus so lange miteinander verfeindeten Nationen kamen, dann musste der ewige Frieden wohl gelingen. Ich wandte mich ab und las bis Paris in der Zeitschrift, die ich mir am Bahnhof hatte holen lassen.

    In Paris hatte ich eine halbe Stunde, um in den Calais-Mediterranée umzusteigen; ein Schlafabteil von unbeschreiblichem Luxus wies mir der sehr charmante Zugbegleiter zu. »Et voilà, Mademoiselle, ich hoffe von ganzem Herzen, Sie werden eine so angenehme Nacht verbringen, wie sie einer Schwester der Aphrodite zusteht. Oder vielleicht einer Jüngerin der Musengöttin?«

    Reichlich perplex starrte ich ihn an.

    »Mademoiselle befinden sich gewiss auf dem Weg zu einem Engagement? Oder in den wohl verdienten Urlaub?« Er zwinkerte mir zu. »Auf der Flucht vor allzu aufdringlichen Verehrern? Das ist das Schicksal aller schönen Frauen, die über das Je ne sais pas quoi verfügen. Aber seien Sie versichert, ich passe gut auf Sie auf. Oder erwarten Mademoiselle den Besuch eines Bekannten?«

    Ich weiß nicht, wie die französischen Männer es machen, aber hätte mir ein englischer Schaffner ähnliche Komplimente gemacht, ich wäre alles andere als geschmeichelt gewesen. Die Aufmerksamkeit seines französischen Kollegen hingegen bewirkte etwas Erstaunliches: Ich spürte zum ersten Mal seit Thomas’ Tod, dass ich eine Frau war und dazu noch nicht zu alt, um auf Bewunderung oder sogar Liebe hoffen zu dürfen. Nicht, dass ich mich noch einmal verheiraten wollte, aber ein kleiner Flirt würde mir gefallen.

    In dieser Nacht träumte ich von all dem, was ich seit vier Jahren vermisste: von Tanz und Liebe. Es waren schöne Träume und doch waren sie mir am nächsten Morgen peinlich; es kam mir so vor, als verriete ich Thomas. Vielleicht saß ich aus dieser Verlegenheit heraus mit gesenktem Kopf im Speisesalon und sah nicht links und nicht rechts, als befürchte ich, man sähe mir meine Sehnsucht an. Albern, natürlich.

    Nun, ich saß also beim Frühstück, blätterte in der Zeitschrift und blickte gelegentlich hinaus in das trübe Grau, das mehr an London erinnerte denn an Südfrankreich. Das allerdings noch Stunden entfernt lag; durch Lyon fuhren wir. Was ich sah, gefiel mir. Vermutlich hätte mir alles gefallen, was nicht Penzance war. Obwohl Penzance eine sehr hübsche Stadt ist. Ich hätte mit ziemlicher Sicherheit kein gutes Haar an Paris gelassen, hätte ich dort mit Lavinia leben müssen. Leise lachte ich auf. Ich war wirklich und wahrhaftig fortgegangen. Ich war frei!

    »Sie haben ein reizendes Lachen, Mademoiselle. Absolument ravissante

    Ich schrak zusammen. Da saß ein Herr an meinem Tisch und ich hatte ihn nicht bemerkt, bis er mich ansprach. Ich glaube, ich machte ein sehr britisches Gesicht, denn er erhob sich ein wenig, zückte einen unsichtbaren Hut und amüsierte sich sichtlich über meine Verwirrung. »Wenn ich mich vorstellen darf, Mademoiselle? Perrier, Gaston Perrier.«

    »Enchantée, Monsieur Perrier. Mrs Thomas Daniel Davies mein Name.«

    Er setzte sich. Lachte. »Engländerin, das dachte ich mir gleich.«

    »Cornish, nicht englisch.«

    »Sagen wir, Sie sind Britin. Es ist so typisch, dass Sie sich mit dem Namen Ihres Gemahls vorstellen. Eine Französin täte das nur, wenn sie kein Interesse daran hätte, meine Komplimente entgegenzunehmen.«

    Er flirtete mit mir! Nahm ich an, sicher war ich nicht, mir fehlte die Erfahrung. Aber er sah mir unverwandt in die Augen, lächelte und wartete auf Antwort. Sehr französisch sah er aus, ganz wie die Zeichnungen in den Modeblättern für den eleganten Herrn: ein kleines schmales Bärtchen über der Oberlippe, das dunkle Haar sorgfältig gescheitelt, die Kleidung tadellos und dennoch nicht steif.

    War er attraktiv? Die Frage wagte ich mir nicht zu beantworten. War er von sich überzeugt? Zu sehr, fand ich. Und fragte daher, ob er sich nicht vorstellen könne, dass auch ich keinerlei Interesse an seinen Galanterien habe.

    »Das kann ich mir in der Tat nicht denken. Ich bin ein Mann, den die Damen mögen.« Er biss sich auf die Oberlippe. »Sie finden mich gewiss arrogant? Aber wäre Ihnen ein dummer Mann lieber, der nicht weiß, was man von ihm hält? Ich bin amüsant und ein hervorragender Gesprächspartner. Über kurz oder lang werden Sie feststellen, wie reizend auch Sie mich finden, und dann ist es womöglich zu spät.«

    »Zu spät?«

    »Wir haben noch gute zwölf Stunden Fahrt vor uns. Die können wir damit zubringen, uns zu langweilen, oder aber wir nutzen die Zeit, uns besser kennenzulernen.«

    Das Verrückte war, ich fand ihn sympathisch, obwohl ich Arroganz nicht ausstehen kann. Und es war doch arrogant, sich selbst als Liebling der Frauen zu bezeichnen? Als amüsant und guten Gesprächspartner? Ein solches Lob überließ man besser anderen. Ich räusperte mich und nippte an meinem Kaffee.

    »Madame, ich sehe es genau, Sie sind schon überzeugt. Lassen Sie Ihren Blick durch diesen Waggon schweifen und sagen Sie mir, ob es auch nur eine andere Person gibt, mit der Sie lieber zusammensitzen wollten.«

    Unwillkürlich sah ich mich um und hätte ehrlicherweise zugeben müssen, dass er recht hatte. Ein englisches Paar mittleren Alters saß schräg auf der anderen Seite des Abteils, starrte stumm aus dem Fenster und zuckte schmerzlich zusammen, wann immer eines der Kinder der französischen Familie am Nebentisch sprach. Hinter mir hatten zwei Herren aus Spanien Platz genommen, die sich leise über ihre Geschäfte unterhielten, und gerade eben hatte eine bekannte Opernsängerin samt ihrer Entourage den Speisewagen verlassen.

    Mein Gegenüber beobachtete mich, lächelte und hob die Hände, wie es nur die Franzosen können. »Ah, ich habe nicht gesagt, die Konkurrenz sei groß. Erzählen Sie mir, Mrs Thomas Daniel Davies, wo ist Mr Thomas Daniel Davies?«

    Ich hatte nicht erwartet, über meinen Verlust zu sprechen, und ich weiß nicht, weshalb ich es tat; es hätte ein knapper Hinweis auf meine Witwenschaft gereicht. Doch ich hatte noch nie mit irgendjemandem darüber gesprochen, was Thomas’ Tod für mich bedeutete. Sicher, ich hatte mit meinem Schwiegervater über seinen Sohn geredet. Aber er sprach über dessen Kindheit und Jugend, seine Streiche und die Erfolge in Schule und Sport. Ich hörte meistens zu, lachte oder weinte und bestätigte, welch ein wunderbarer Mensch Thomas gewesen sei. Über meine Ehe und meine Einsamkeit sprach ich nicht, das war nichts für einen auch noch so geliebten Schwiegervater. Und die zwei Freundinnen, die ich hatte – nun, vielleicht hatte ich kein Talent für enge Freundschaften oder vielleicht war ich zu speziell, um in einer so kleinen Stadt wie Penzance die Frauen zu finden, die zu mir passten. Wir trafen uns alle Wochen zum Tee, wir strickten und nähten gemeinsam, wir lachten über den neuesten Tratsch und behielten eine jede für sich, was sie belastete.

    Monsieur Perrier war in der Tat ein hervorragender Gesprächspartner. Er hörte aufmerksam zu und auch der kleinste Funken Spott war aus seiner Miene verschwunden. Recht bald schob er mir ein Taschentuch über den Tisch und bestellte eine heiße Schokolade mit Rum – meinen Einwand, es sei noch nicht einmal Mittag, ließ er nicht gelten und obwohl ich mit Alkohol nicht allzu viel anfangen kann, spürte ich doch, wie wohl er mir tat, als ich hemmungslos ausbreitete, was sich in den letzten vier Jahren angestaut hatte. Monsieur Perrier sagte nicht viel dazu und gab mir dennoch zu verstehen, ich müsse mich für nichts schämen.

    Eine gute Stunde lang sprach ich und fühlte mich mit jeder Minute mehr von einer unerträglichen Last befreit. Ich erzählte von dem Abend, an dem ich Thomas kennenlernte und mich augenblicklich in ihn verliebte, von seinem Antrag, unserer Hochzeit und unserem Alltag, wie wir gemeinsam Rätsel lösten, uns aus unseren Lieblingsbüchern vorlasen und von unseren Spaziergängen, ja, sogar von unserem ersten Kuss und wie sehr ich es vermisste, ihn neben mir zu wissen, wenn ich einschlief.

    Als Monsieur Perrier fragte, ob Thomas ein guter Liebhaber gewesen sei, war ich nicht empört, so selbstverständlich hatte sich diese Frage ergeben und so behutsam wurde sie gestellt.

    »Ich denke schon«, antwortete ich nach kurzem Zögern.

    »Sie wissen es nicht?«

    Ich blieb still. Nicht, weil es mir peinlich war, über diese Dinge mit einem fremden Herrn zu reden – und es hätte mir peinlich sein sollen! –, sondern weil ich die Antwort nicht wusste. Wenn wir uns liebten, fühlte ich mich wohl, das unbedingt, aber mehr noch genoss ich die Augenblicke danach, wenn ich mich auf die Seite rollte und Thomas minutenlang meinen Rücken streichelte. Dann sprachen wir über unsere Träume für die Zukunft. Und auch das erzählte ich Monsieur Perrier. Er war ein Fremder, der mir guttat und den ich niemals wiedersehen würde, was machte es also aus?

    Was er allerdings entgegnete, das stach: »Ihr Thomas war ein guter Mann und sein Tod ist ein Verlust für uns alle; es braucht solche Männer wie ihn, die wissen, was gut und richtig ist. Aber weshalb sprachen Sie nur von der Zukunft und lebten nicht die Gegenwart? Auf was wollten Sie warten? Wollten Sie die Pyramiden besuchen, wenn Sie kaum noch die Kraft haben würden, die Reise durchzustehen?«

    »Seine Arbeit –«

    »Nein, das ist eine Ausrede. Ihr Schwiegervater hätte seinem Sohn alles möglich gemacht, was er wollte, davon bin ich überzeugt. Und Sie wären lieber gestern als heute aufgebrochen. Das stimmt doch?«

    Was Monsieur Perrier sagte, war genau das, was ich mir seit zehn Jahren nicht eingestehen wollte. Ich dachte zurück: Wir waren frisch verheiratet und Frederick hatte Thomas angeboten, ihn für ein halbes Jahr freizustellen, damit wir auf Reisen gehen könnten, bevor wir nichts als Arbeit und Familie kannten. Doch Thomas war der Meinung, es sei der falsche Zeitpunkt; die Brauerei brauche gerade seine Aufmerksamkeit. Und so war es weitergegangen, immer war etwas zu erledigen gewesen, immer drängte ein Konkurrent auf den Markt, musste eine Anlage erneuert, ein Rezept verbessert oder ein Arbeiter ersetzt werden. Schon die Fahrten nach London und Schottland hatte Thomas nur mühsam unterbringen können und kamen wir zurück nach Penzance, so nickte er jedes Mal zufrieden und meinte, daheim sei es eben doch am schönsten.

    Sachte legte sich Monsieur Perriers Hand auf meine und ernsthaft entschuldigte er sich, wenn er mir Kummer gemacht haben sollte mit seiner Bemerkung. »Aber sehen Sie, Madame, ich denke, Sie sind eine Frau, die mehr vom Leben braucht als Kreuzworträtsel und Kameradschaft. Sie brauchen Leben und Liebe. Und beides sollte aufregend und kraftvoll sein.«

    Das war zu viel. Das war unverschämt, das war anmaßend, das war zu persönlich! Ich stand auf. Gemessen und beherrscht. »Ich danke Ihnen, Monsieur Perrier, für die Mühe, mich zu unterhalten. Ich –«

    »Gehen Sie nicht, Madame. Wenn Sie es für nötig erachten, entschuldige ich mich. Aber ich werde Sie nicht in Ihr Abteil gehen lassen, wenn ich weiß, Sie werden weinen und sich mit der Vergangenheit quälen.«

    »Sie halten eine Entschuldigung also nicht für nötig?«

    »Ich halte es für nötig, dass Sie nach vorne sehen und werden, wer Sie sind.«

    »Sie kennen mich nicht. Weder wissen Sie, was gut für mich ist, noch sind Sie für mein Wohlergehen verantwortlich.« Ich weiß nicht, weshalb ich mich wieder setzte, da ich doch nichts lieber wollte, als in mein Abteil zu gehen. Um dort genau das zu tun, was er gesagt hatte: weinen und mich mit der Vergangenheit quälen, die ich nicht länger in gänzlich rosigen Tönen sehen konnte.

    »Madame, ich entschuldige mich nicht für das, was ich denke, aber ich hätte es nicht jetzt schon sagen sollen. Dafür bitte ich um Verzeihung.«

    »Sie liegen völlig falsch. Sie scheinen zu glauben, ich hätte weder Leben noch Liebe gehabt. Das stimmt nicht.« Obwohl es mir sonst leichtfiel, ruhig zu bleiben, hatte ich jetzt Mühe, nicht laut zu werden.

    »Sie hatten es nicht in dem Maße, wie Sie es brauchen. Ich glaube, dass Ihr Schwiegervater Sie wie seine Tochter geliebt hat, und ich glaube, dass auch Ihr Gemahl Sie mit all der Leidenschaft geliebt hat, der er fähig war. Aber Sie …« Er brach ab. Lächelte. »Nein, ich sollte das nicht fortführen. Ich möchte Sie lachen sehen, lassen Sie uns über etwas anderes sprechen, oui?«

    Ich nahm die Menükarte auf; es ging auf Mittag zu und trotz des reichhaltigen Frühstücks verspürte ich unbändigen Hunger. Ich ließ mir Zeit, die Karte zu studieren. Zeit, die ich vor allem brauchte, um meine widerstrebenden Gefühle zu verstehen. Was Monsieur Perrier gesagt hatte, schmerzte. Weshalb ich fortwollte von ihm. Aber dann wieder spürte ich, wie ich nun vielleicht die Chance hatte, von vorne zu beginnen, wenn ich mir nur eingestehen würde, was ich tief in mir lange schon ahnte: Dass es vor allem tiefe Freundschaft war, die ich für den besten Menschen in meinem Leben empfunden hatte. Natürlich hatte ich Thomas geliebt, ich tat es noch, aber es war nie das gewesen, was ich mir unter Leidenschaft vorgestellt hatte. Nicht, dass ich das erwartet hätte, kaum eine junge Frau aus guter Familie hatte mehr von ihrer Ehe erwartet als Respekt, Zuneigung und eine sichere Versorgung. Von Liebe träumte man, man erhoffte sie und las mit Staunen über ihre mitunter fatalen Auswirkungen. Es waren andere Zeiten gewesen, völlig andere Zeiten, die weiter entfernt waren, als die zehn Jahre Unterschied uns weismachen wollten. So viel hatte ich sogar in Penzance mitbekommen, dass etwas im Gange war, dass Frauen heute anders dachten und handelten, da dieser Krieg uns all unserer Ideale und Traditionen beraubt hatte. Ideale und Traditionen, die nicht sonderlich bewahrenswert gewesen waren, sah man einmal genauer hin.

    »Worüber denken Sie nach, Mrs Davies?«

    Ich hatte die Karte sinken lassen und Monsieur Perrier war offenbar in der Lage, meiner Miene so manches abzulesen. Aufrichtig interessiert sah er aus und ich glaubte, etwas wie Mitleid in seiner Stimme zu hören. Aber Mitleid wollte ich nicht, das hatte ich nie gewollt. »Ich dachte darüber nach, wie anders Frauen nun leben werden.«

    Er lachte, nahm die Speisekarte auf und winkte dem garçon. »Madame und ich nehmen das Gratin und einen Bordeaux. Das Zitronensorbet bitte als Erstes, ein wenig Käse zum Abschluss.«

    Ich widersprach nicht; in der Tat hatte ich mich für dasselbe entschieden.

    »Alors, wie werden Frauen in diesem neuen Jahrzehnt leben? Lassen Sie mich überlegen … Ich denke –«

    »Wir werden es miterleben. Was wollten Sie eben sagen?«

    »Das Gratin in diesem Zug ist hervorragend und –«

    »Sie sagten, mein Mann habe mich geliebt. Ich aber tat was?«

    »Ich möchte Sie nicht noch einmal verärgern. Noch immer haben wir zehn Stunden vor uns und –«

    »Woher wissen Sie, dass ich nicht in Marseille aussteige? Oder in Cannes?«

    »Alle Engländer fahren nach Nizza.«

    »Ich bin nicht alle Engländer.«

    »Ich sah Sie gestern Nacht, als Sie mit dem Zugbegleiter sprachen. Ihr Abteil ist bis Nizza gebucht.« Er wartete, bis der Kellner das Sorbet abgestellt und sich entfernt hatte. »Ich beschloss, mir die Reisezeit mit Ihnen zu vertreiben.«

    »Weil ich so unwiderstehlich bin.«

    »Weil Sie ein Rätsel sind. Sie sind eine hübsche Frau, die traurig und selbstbewusst zugleich wirkt, das machte mich neugierig. Sie besteigen einen der mondänsten Züge und tragen Kleidung, die augenscheinlich von einer Schneiderin ohne modischen Ehrgeiz gefertigt wurde. Sie haben einen einzigen Koffer, Ihre Schuhe sind ein wenig abgetragen und doch bewegen Sie sich, als wären Sie mit dieser Art zu reisen vertraut, um dann wieder staunend in die Landschaft zu schauen, als erlebten Sie ein Wunder. Ich konnte in der Tat nicht widerstehen und ich bereue nicht, mich Ihnen aufgedrängt zu haben.« Er probierte vom Sorbet, nickte zufrieden. »Ich bedauere nur, Sie verärgert zu haben. Es hat mich mitgerissen. Das Sorbet ist vorzüglich, finden Sie nicht auch?«

    »Das ist es. Was also hatten Sie sagen wollen?«

    »Sie möchten es wirklich hören?«

    Ich nickte. Und hörte, was ich selbst vor wenigen Minuten erst erkannt hatte: Monsieur Perrier war überzeugt, ich hätte aufrichtige Freundschaft mit der Liebe verwechselt, die Frau und Mann zusammenführt. »Oder zusammenführen sollte. Vielleicht ist es ein englisches Problem? Eine gewisse Kühle, eine seltsame Zurückhaltung auf beiden Seiten?«

    Doch nun, da ich mich bestätigt sah, hatte ich keine Lust mehr auf eine Unterhaltung, die meine Ehe zum Gegenstand hatte. »Monsieur Perrier, Sie haben von sich behauptet, amüsant zu sein. Beweisen Sie es.«

    Er lachte und zurück war der leise Spott in seinen Augen, um seine Mundwinkel. Er strahlte. »Ich laufe zu Bestform auf vor einem kritischen Publikum.«

    Das tat er wahrhaftig. Er war mokant, spitzfindig, gebildet und interessiert an allem, was die Welt zu bieten hatte. Er ging auf jede meiner Anmerkungen ein, war abwechselnd ernst, melancholisch gar, um dann alles von der heiteren Seite her zu betrachten. Über was genau wir uns unterhielten, kann ich nicht mehr sagen, auf alle Fälle lachten wir herzlich über Lavinia, die mit jeder Meile, die ich mich von ihr entfernte, unbedeutender und alberner zu werden schien. Es verging mir die Zeit so angenehm wie lange nicht mehr. Er hatte nicht zu viel versprochen und ich fragte mich, ob ich ebenso empfunden hätte, hätte er sich nicht zuvor so gnadenlos offen über meine Ehe geäußert.

  • Die wilde Jagd durch Bonn

    Die wilde Jagd durch Bonn

    Es ist ein Mittwochmittag Ende Mai 1929 und ganz Bonn scheint bester Laune.
    Auch die beiden Herren, die soeben eine der angesehensten Banken der Stadt überfallen haben. Sie wären weniger wohlgestimmt, wüssten sie, dass ihnen Kriminalwachtmeister Mertens und seine Kollegin Emma auf den Fersen sind.

    Es sieht nach einer einfachen Angelegenheit aus, doch bald schon entwickelt sich aus der Verfolgung eine turbulente Jagd, bei der ein verliebtes Fräulein, ein blasierter Bankier und Kommissar Wertheim mitmischen. Und ein unerkannter Mörder …

    Kreuz und quer geht es durch Bonn und mehr als einmal schwankt Emma zwischen Zuversicht und Sorge, zumal gelegentlich ihre Prinzipien auf dem Prüfstand stehen.

  • Elisanne, die Sanfte

    Elisanne, die Sanfte

    Der Ruf der Herrin vom See bringt Melisande und den Professor zurück nach Avalon. Hier lebt Elisanne, das junge Mädchen aus der Dunkelsten Welt. Visionen und wirre Träume plagen sie und so fasst sie einen Entschluss, der weitreichende Konsequenzen hat. Nicht zuletzt ist auch die Vampira Swanhild von den Folgen dieser Entscheidung betroffen. Sie sucht nach Verbündeten unter den Strigoi und stößt dabei auf mehr als eine Schwierigkeit.

    Mit Schwierigkeiten anderer Art hat Odila, die Zeitenspringerin, zu kämpfen. Sie greift zu einer List, um die Königin der Schotten vor der Hinrichtung zu bewahren. Aber wird sie damit durchkommen und die Vergangenheit zum Besseren wenden?Es stehen Professor Olivero und den drei Agentinnen des 

    Instituts für Fantastik auch im vierten Band ereignisreiche Tage mit alten und neuen Feinden und unerwarteten Freundschaften bevor. Zerstreut in alle Richtungen, doch vereint in ihren Zielen, geben sie nicht auf, das Glück ihrer Welt zu erhalten.

  • Der Tod im Aktenschrank

    Der Tod im Aktenschrank

    Eiskalt ist es im Januar 1929; es türmt sich der Schnee am Rhein, die Straßen sind spiegelglatt.

    Da trifft es sich gut, dass Emma wärmstens empfangen wird in der Bonner Porzellanfabrik. Dort soll sie eine Werbeschrift erstellen. Eifrig stürzt sie sich in die Arbeit, beschäftigt sich nicht nur mit der Firmengeschichte, sondern auch mit der Familie dahinter.

    Bald glaubt sie, auf einen unerkannten Kriminalfall gestoßen zu sein. Was geschah im Sommer 1899 mit Luise?

    Das Stöbern in der Vergangenheit allerdings hat Auswirkungen auch auf die Gegenwart. Mörderische Auswirkungen, die auch Emma betreffen könnten …

  • Ein Leben wie im Film

    Ein Leben wie im Film

    Lilys Leben wird ordentlich durcheinandergewirbelt: Nicht nur, dass der Tonfilm ihr einiges an Arbeit abverlangt, auch Baby Melli sorgt für Trubel im Hause DuPlessis.

    Dazu kommt die Konkurrenz, die bekanntermaßen niemals schläft. Diese ist ausgerechnet mit Timotheus Mayenbach – pardon, Timotheus Mondschein, wie er sich nun nennen lassen muss – verheiratet. Und Eva Luna – wie Eva Maria Auguste Mondschein-Mayenbach sich ganz freiwillig nennt – ist ihm eine gestrenge Gattin. Wen wundert’s, dass er bald wieder um Lily herum scharwenzelt?

    Was, Wunder über Wunder, niemanden wundert. Wäre ja auch ein Wunder gewesen! Doch Wunder geschehen immer wieder und erst recht, wenn wir mit Lily, Emmanuel und all den anderen reizenden Menschen unterwegs sind.

    Ob es uns auch dieses Mal an die Loire verschlägt? Wir werden es erleben.

  • Erstaunlich guter Laune bin ich

    Erstaunlich guter Laune bin ich

  • Warum befindet sich meine Rechtsmedizin in der Universität?

    Warum befindet sich meine Rechtsmedizin in der Universität?

    Echte und fiktive Orte bei Fräulein Schumacher

    Das Bonn, durch das Emma und Kommissar Wertheim laufen, unterscheidet sich in vielem von dem Bonn, das wir heute kennen. Nicht nur, weil ein komplettes Viertel den Kriegsgelüsten eines Führers zum Opfer gefallen ist und manch anderes dem Geschmack der nachfolgenden Jahrzehnten, sondern auch deshalb, weil ich mir gelegentlich Freiheiten genommen habe darin, wo und wie ich Handlungsorte angelegt habe.

    In den allermeisten Fällen verwende ich Geschäfte, Lokale und Hotels, die im betreffenden Jahr des Romans existierten. Eine Ausnahme habe ich vielen Tatorten gemacht: Den Salon von Madame Mirabeau beispielsweise gab es so wenig wie das Modeatelier Dezière. Im letzten Tanz habe ich einige Tanzlokale erfunden, da ich in dieser Hinsicht nicht viel finden konnte in dem Recherchematerial, das mir zur Verfügung stand.

    Dann gibt es die Orte, von denen ich wohl weiß, wo sie waren – das Kommissariat der Kriminalpolizei befand sich in der Tat im Alten Rathaus -, aber nicht, wie sie aussahen. Hier habe ich mir also eine Wache überlegt, wie sie zu Wertheim und Siegfried passen könnte.

    Andere Orte wiederum habe ich entweder verlegt oder darauf verzichtet, sie umzuziehen, auch wenn das in der Realität der Fall war. Deshalb befindet sich die Rechtsmedizin in der Universität, in der sie kurz einmal untergeschlüpft war; mir gefällt die Idee, dass Wertheim nur wenige Schritte gehen musste, um dorthin zu gelangen, und dass er sein Unbehagen mit einem Blick auf den Hofgarten lindern kann.

    Auch was die Personen angeht, habe ich mich oft von echten Namen im Telefonbuch inspirieren lassen. Manchmal habe ich die Namen leicht abgeändert, wie ich es gerade jetzt im 13. Band der Reihe mit einer Schuldirektorin getan habe. Die Schule existierte wirklich, hatte aber natürlich nichts mit dem Mordfall zu tun.

    Insgesamt ist es also so, dass die damalige Realität meine Fiktion überwiegt, wobei keine/r von uns das alte Bonn wirklich erlebt hat und somit eigentlich jede historische Geschichte immer Fiktion bleiben muss.

  • Edward Sinclairs Brautschau

    Edward Sinclairs Brautschau

    Er weiß alles und alles weiß er besser. Kein Wunder, dass seine Schwester eine Ehefrau für ihn sucht!

    England, 1813.
    Edward Sinclair, Herr von Manhey Manor, besitzt zwar kein schönes Vermögen, dennoch ist man allgemein der Meinung, er benötige dringend eine Frau. Eine Ansicht, der er zustimmt. Eine sanfte Person stellt er sich vor, hübsch anzusehen, gebildet, klug, charmant.

    Hübsch, gebildet und klug ist Miss Elizabeth Fielding unbedingt. Zu gerne wäre Edward mit ihr alleine, doch auch zwei andere junge Damen benötigen seiner (widerwilligen) Aufmerksamkeit. Und als ob es der Ablenkung damit nicht genug wäre, mischt sich auch noch seine Schwester ein. Sie nämlich ist überzeugt, besser zu wissen als er, welche Dame zu ihm passt und welche nicht …

  • Sinnvolle Rezensionen

    Sinnvolle Rezensionen

    Wer auf Facebook Autorinnen (beiderlei Geschlechts und jeglicher Herkunft) folgt, hat in den letzten Wochen und Monaten sicherlich oft gelesen, wie wichtig Rezensionen seien, welch ein Schindluder damit getrieben werde und wie gemeine Hater ihr armseliges Leben durch üble Verleumdung aufwerten würden.

    Diese Beiträge klangen mal wütend, mal jammernd, oftmals bittend und flehend und gelegentlich witzig. Da gibt es manche, die behaupten, sich nicht im Geringsten um Bewertungen zu scheren (Leserinnen wie Autorinnen), und andere, die sich nicht scheuten, die garstige Rezensentin an den Pranger zu stellen, weil sie echt wirklich absolut voll gar keine Ahnung habe und schlicht zu doof sei, um das verrissene Werk zu verstehen. Gerne handelt es sich dabei um Romane wie ‚Besorg’s mir, Darling!‘, ‚Kaffee, Kuchen und ganz viel Liebe‘, ‚Der harte Kerl mit dem weichen Keks‘ oder ähnliche Anwärter auf den Literaturnobelpreis, wobei ich nun keineswegs meine, es müsste alles mit Hinblick auf diese Ehrung geschrieben werden (Himmel nein!).

    Aber selbst berechtigte Kritik wird übel aufgenommen und bringt der Rezensentin wenigstens einen Schadenfluch und die Streichung sämtlicher Karmapunkte ein.

    Und ratet einmal: Ich kann das durchaus verstehen.

    Des Morgens zu erwachen und eine miese Rezension vorzufinden, das verschönt den Tag eben mal so überhaupt nicht. Gerade in diesen Zeiten wünscht sich die zarte Künsterlinnenseele eben auch einmal Zuspruch und Streicheleinheiten, am liebsten solche, die ein klein wenig öffentlich erfolgen, damit mehr Leserinnen einen finden mögen, die von ähnlicher Natur sind wie eben jenes engelsgleiche Wesen, das einem schrieb, es liebe jedes Wort, das man von sich gebe.

    Oder um einmal persönlicher zu werden und von meinem Erleben zu berichten: Ich habe durch meine Romane genau die Frauen (und eine kleine Handvoll äußerst wunderbarer Herren) kennengelernt, die ich mir während des Schreibens vage vorgestellt hatte. Frauen (und Herren) nämlich, die ich auch sonst durch andere Tätigkeiten traf, Frauen, die klug, witzig, warmherzig und charmant sind. Frauen, die als Leserin nicht allzu viel anfangen können mit immer noch detailreicheren Schilderungen menschlicher Qual. Frauen, die es gerne etwas ruhiger mögen, weil ihr Leben schon zu voll ist von zu viel Arbeit, zu viel Hetzerei von einem Ort zum nächsten. Frauen, die gerne lesen und Sprache genießen und nicht nur zack, zack, zack den nächsten Mord, die nächste Leiche und dann den Mörder präsentiert haben möchten. 

    Das Problem mit diesen Leserinnen ist: Die meisten sind eher zurückhaltend, wenn es darum geht, öffentlich ihre Meinung kundzutun. Ich habe nun schon viele eMails, Briefe und Päckchen gar erhalten von solch entzückenden Frauen, in denen sie mir alles Gute wünschen und sich selbst bitte mehr von Emma, Lily und Olivero. Und jedes Mal sinke ich vollkommen überwältigt auf einen Stuhl und heule einige Minütchen überwältigt vor mich hin und wünschte, ich könnte diese Freundlichkeit angemessen entgelten. Aber ganz gelegentlich wünschte ich mir auch, sie würden es wagen, das auch in eine Rezension zu setzen, weil ich doch gerne glauben möchte, es könnten meine Charaktere und Geschichten mehr Leserinnen (und Lesern) gefallen, als ich bislang erreiche.

    Aber zurück zu den Rezensionen, die nicht so reizend sind. Da haben es die meisten leider so an sich, dass sie relativ unspezifisch sind und somit nicht weiterhelfen. Ja, halt, stopp, natürlich weiß ich, dass diese Bewertungen nicht dazu gedacht sind, einer Autorin auf die Sprünge zu helfen. Andererseits aber – hey, doch! Denn viele der negativen Rezensionen werden persönlich: entweder der Schreibenden gegenüber oder aber sie drehen sich allein um die Rezensentin. Da liest man dann: 

    War voll langweilig, es passiert überhaupt nix, das ist kein Krimi. Für mich ist das nichts, kann ich nicht leiden. Fehlt echt an allem!

    Jo, kann man schreiben, kann man so sehen, ist absolut in Ordnung, denn wie heißt es so treffend: Es recht zu machen jedermann, ist eine Kunst, die keine kann. Und wer klug ist, versucht das auch gar nicht erst. Ich beispielsweise habe nicht das geringste Interesse daran, für Menschen zu schreiben, die andere nicht respektieren, die rassistisches Gedankengut pflegen und Hitler für ein missverstandenes Genie halten. Ist mein gutes Recht, die zu vernachlässigen. Und ich fasse es noch enger, denn ich schreibe für diejenigen, die mir als Leserin ähneln; ich schreibe das, was ich selbst suche. Und freue mich, wenn ich feststelle, dass die Gruppe viel größer ist als gedacht. 
    Wo also liegt das Problem?

    Vergessen wir die Buchwelt auf einen Moment und gehen wir einmal online shoppen. Lasst uns also das tun, was wir, die wir der Pandemie keinen Vorschub leisten wollten und die dennoch das Gefühl von ein wenig Normalität wollten, taten: Da sitzt man also am Sonntagvormittag gemütlich bei café au lait und croissant oder bei Tee und knusprigen Brötchen im Sessel, auf dem Sofa, im Bett, auf der Terrasse oder in der Küche und surft herum. Es ist Frühling, es kommt der Sommer, der Herbst naht, bald schneit es – wir brauchen unbedingt ein luftiges Kleidchen, leichte Sandalen, eine Badehose, eine Jeans oder einen kuschligen Pullover.

    Bleiben wir beim Pulli. Der soll weich sein (versteht sich von selbst), gerne in einem kühlen Kirschrot (Rot online kaufen, das letzte Abenteuer der Menschheit!), mit eng anliegendem Rollkragen, eher schmal, doch nicht eng geschnitten, mit langen Ärmeln, die bis über die Handgelenke gehen, und taillenkurz, damit er zu dem neuen Rock, der neuen Hose passt. Ach, und gerne mal mit einem Norwegermuster. Das klingt doch gut und etwas ganz Ähnliches haben wir vor Ewigkeiten in einer Zeitschrift beim Friseur gesehen, muss also zu finden sein. Wir besuchen die üblichen Verdächtigen und werden in unserer Verzweiflung immer großzügiger in der Auslegung der von uns festgelegten Kriterien; wir besuchen nun sogar schon die Shops, von denen wir niemals wieder etwas bestellen wollten.

    Und endlich finden wir eine Webseite, die das Gewünschte hat und das in reicher Auswahl. Sagen wir mal, es ist ein Geschäft, das ökologisch korrekte, in Fair Trade hergestellte Kleidung verkauft und das auch noch anständig designt. Das hat natürlich seinen Preis. Aber hurra, hier gibt es sogar Bewertungen von echten Käuferinnen! Das ist doch perfekt! Dann die Enttäuschung: Gleich die erste Rezensentin vergibt nur einen Punkt und brüllt: 

    Totale Abzocke! Der Pulli ist sein Geld nicht wert! Einmal getragen und schon pillt der! Und eingelaufen ist der auch! Dabei habe ich den mit der Hand gewaschen! Und woanders gibt es den in schöner und viel billiger! Betrug!

    1 Stern, weil man weniger nicht geben darf! Alles Beschiss hier!

    Gut, der Ton der Dame missfällt und eigentlich hören wir auf solche Schreihälse doch gar nicht. Aber irgendwie sieht der Pulli jetzt gar nicht mehr so schön aus wie noch vor dem Lesen dieser Bewertung. Und trotz Handwäsche ist der eingelaufen? Da wäre ich auch wütend. Hmmm …
    Wir lesen weiter:

    Sehr schöne Qualität, Farbe wie abgebildet, bekomme viele Komplimente. Ich wünschte nur, er wäre ein wenig länger, denn wenn ich die Arme hebe, rutscht er mir bis über den Busen.

    Vier Sterne.

    Wieder überlegen wir: Zu kurz? Das sieht ja auch nicht aus und schon gar nicht, wenn ich 150,- € dafür zu zahlen habe. Aber es ist genau das richtige Rot und überhaupt drückt sich diese Frau viel netter aus, der glaube ich doch eigentlich lieber als der anderen. Aber zu kurz ist natürlich blöd.
    Wir lesen die dritte Bewertung:

    Farbe top, schönes warmes Rot. Verarbeitung spitzenmäßig, lüften reicht, da reine Kaschmirwolle. Schnitt ist seltsam: zu eng am Hals, zu weit in den Armen. Habe ihn trotzdem behalten, Oma trennt mir das Bündchen ab und strickt ein neues dran.

    Drei lieb gemeinte Sternchen.

    Zu eng am Hals? Das ist unangenehm und dann passt am Ende kein Top mehr drunter, wenn es wirklich kalt wird. Und warmes Rot? Wieso sagt sie jetzt, das Rot wäre warm? Das steht mir ja gar nicht.
    Eine vierte Bewertung lesen wir auch noch:

    Geile Hose, schnell geliefert, Preis könnte niedriger sein, war aber ein Geschenk, ist also ok. Gerne wieder.

    Volle Punktzahl. Äh, alle Sterne, hahaha.

    Hose? Na, das hilft ja gar nicht weiter. Und im Grunde hilft keine einzige dieser Rezensionen mir bei meiner Suche, sie verunsichern mich nur. Was nicht bedeutet, es sollten keine Rezensionen mehr geschrieben werden. Wir brauchen nur mehr Infos. Weshalb manche Shops nun mehr von ihren Rezensentinnen verlangen. Wenn ich mich hier in ein Kleid verliebt hätte, dann würden mir diese Bewertungen durchaus weiter helfen:

    Kleidergröße 40, 170-180 cm, schlank, 80B, blond

    Passt perfekt, Kleid geht bis Wadenmitte und schwingt sehr schön.

    Kleidergröße 44, 150-160, mollig, 90E, rothaarig

    Kleid viel zu lang, viel zu eng oben rum, Farbe macht blass. Geht zurück! Nie wieder dieser Shop!

    Kleidergröße 36, 180-190, sehr schlank, 75A, brünett

    Fällt schön blusig, Rock könnte länger sein, Farbe könnte ruhig knalliger sein, sieht aber sehr fein aus. Sehr empfehlenswert.

    Der Naturmodeshop von oben würde sicherlich von diesen Informationen ebenso profitieren. Und womöglich wäre eine Info mehr auch hilfreich:
    Hat die Kundin, die von Abzocke sprach, vielleicht zum ersten Mal so viel für einen Pullover ausgegeben? Kauft sie sonst vielleicht bei KiK (ohne, dass das abwertend gemeint ist!)? Und Handwäsche ist – wir Strickerinnen wissen das – nicht ohne, da ist die Temperatur schnell mal zu heiß, da liegt ein kostbares Stück schnell mal zu lange im Becken oder wird zu grob herausgezerrt, am Ende gar auf der Heizung getrocknet.
    Hat die Dame, die den Pulli zu kurz findet, vielleicht eine Körbchengröße jenseits von D? Hat sie einen ausladenden Brustkorb? Hat sie eine zu kleine Größe gekauft? Und wie ist ihr Monitor eingestellt – Farbe wie abgebildet heißt im Grund leider gar nichts. Und hat mich doch verunsichert.
    Nummer drei hat vielleicht Probleme mit der Schilddrüse, weshalb ihr jeder hohe Kragen zu eng vorkommt. Und meint sie mit einem warmen Rot dasselbe, was eine ausgebildete Farbberaterin darunter versteht? Das ist eher selten.
    Und bei Nummer vier wäre der Shop gut bedient, die Rezensionen auf ihren Inhalt zu überprüfen und die Rezensentin darauf aufmerksam zu machen, dass sie womöglich in der Zeile verrutscht war.

    Gut. Was hat das nun mit Büchern zu tun?

    Ich würde mir wünschen, wir bekämen da ähnliche Infos. Das würde mir sowohl als Leserin wie auch als Autorin wünschen. Wahrscheinlich machen das viele von euch ähnlich, wenn sie Rezensionen überhaupt lesen: Wenn jemand überschwänglich lobt oder gnadenlos niedermacht, dann schauen wir uns das Profil an und gucken, was denn sonst so gelesen wird. Weil wir wissen wollen, wie ernst wir die Aussage nehmen können oder müssen. Viel leichter und hilfreicher wäre es, wenn wir das sofort erkennen könnten:

    Weiblich, 20-30 Jahre, liest am liebsten Horror, hardboiled Krimi, Dark Romance, BDSM

    War voll langweilig, es passiert überhaupt nix, das ist kein Krimi. Für mich ist das nichts, kann ich nicht leiden. Fehlt echt an allem!

    Aha. Wenn ich nun eine Leserin bin, die dieselben Vorlieben hat, dann spare ich mir die Ausgabe und lasse das Buch liegen. Bin ich eine Leserin, die mit diesen Genres überhaupt nichts anfangen kann, dann freue ich mich vielleicht und denke, ich sollte einmal hineinschauen. 

    Und als Autorin denke ich mir: Ja, stimmt, du hast völlig recht. Du und mein Buch, ihr passt nicht zusammen und es tut mir leid, dass du dir etwas anders versprochen hast. Ich sollte noch einmal in meinen Klappentext gucken und überlegen, wie ich das klarer machen kann. Oder ist mein Cover wirklich so bluttriefend, dass du zugreifen musstest? Wie auch immer, danke für den Tipp.

    Zwar macht mir die Bewertung noch immer meinen Bewertungsschnitt kaputt, aber hey: Nichts ist unglaubwürdiger als 100 x fünf Sterne!

    Weiblich, 30-40 Jahre, liest am liebsten cosy crime, Historische Romane, heitere Komödien

    War voll langweilig, es passiert überhaupt nix, das ist kein Krimi. Für mich ist das nichts, kann ich nicht leiden. Fehlt echt an allem!

    Au verdammt! Die liest dasselbe, was ich mag, das ist die Leserin, für die ich schreibe. Schnell mal ins Profil schauen, was sie zuletzt bewertet hat. Doppelt au! Sie liebt all die Romane, die ich auch liebe! Jetzt weiß ich, ich muss noch einmal ran, irgendwo habe ich richtig Mist gebaut, das kann ich besser. Schnell eine Runde heulen und toben und dann ran an die Arbeit!

    Natürlich gibt es immer noch Rezensentinnen, die wirklich nur aus Spaß an der Freude Verrisse schreiben oder einfach nur überall einen Stern vergeben. Es gibt solche Menschen, die kleingeistig und schadenfroh sind. Und es gibt auch Konkurrentinnen, die sich von diesen Dingen einen Nutzen versprechen. Aber das dürfte doch die Minderheit sein. Die meisten negativen Rezensionen erhält man eben, weil Buch und Leserin nicht zusammengehören und es nicht gelungen ist, beide auseinanderzuhalten.

    Mag sein, es wollte die Leserin einmal etwas Neues ausprobieren, mag sein, sie ist eine Schnäppchenjägerin, die alles runterlädt, wenn es umsonst oder sehr billig ist, mag sein, es hat die Autorin absichtlich ihr Buch in das falsche Genre einsortiert. Oder es kann sein, die Rezensentin ist der Meinung, es müsse alles nach ihren Wünschen geschrieben sein. Alles möglich, da stecken wir nicht drin.

    Aber weil jede negative Meinung auch diejenigen beeinflusst, die sich für immun solchen Einflüsterungen gegenüber halten, wäre es schön, wenn sich auch diejenigen, die schüchtern und zurückhaltend sind, dazu überwinden könnten, ihre Meinung öffentlich kundzutun, wenn sie weiterhin mit Romanen ihrer liebsten Autorin Zeit verbringen wollen. Denn das Arbeiten mit nur wenig Resonanz und Unterstützung – das bringt das Schreiben nun einmal so mit sich, vor allem, wenn man als Autorin auch eher schüchtern und zurückhalten ist – ja, dieses Arbeiten geht schon einmal schlechter von der Hand, wenn man sich für ungelesen und ungeliebt hält.

  • Liebe, Mord & andere Peinlichkeiten

    Liebe, Mord & andere Peinlichkeiten

    Ich gebe es zu, auch ich kenne guilty pleasures. Ganz schlimme sogar!

    Ich habe beispielsweise die diesjährige Staffel von ‚Hochzeit auf den ersten Blick‚ mit heimlicher Wonne geschaut, wobei ich gar nicht sagen kann, was mich daran so fesselt.
    Aber etwas fasziniert mich enorm und so ist es vielleicht kein Wunder, dass ich vor weniger als zwei Wochen auf die Idee zu einer Weihnachtsgeschichte kam, die wenig besinnlich, dafür aber romantisch, lustig und spannend ist – drei Überraschungen auf einmal sozusagen! Hurra!

    Heraus kam ein Kurzroman, an dem zumindest ich viel Spaß hatte. Ich selbst bin nicht unbedingt eine romantische Seele, deswegen schlüpfe ich ganz gerne einmal in die Haut einer Frau, die mir nur wenig ähnelt.
    So ist die Journalistin Caroline Schumann ausgesprochen ehrgeizig, was sich in ihrer Wahrnehmung mit ihrer Sehnsucht nach Liebe und Romantik beisst. Doch beides, Ehrgeiz wie Sehnsucht, tragen dazu bei, dass sie sich auf Befehl ihres Chefs bei einer solchen Hochzeitsshow anmeldet. Und sich wider Erwarten in einem verschneiten Feriendorf in der Eifel wiederfindet – gemeinsam mit ihrem Ehemann, zwei anderen Pärchen, einem Filmteam und einen Mörder …