Die Rheingasse


Über Jahrhunderte war diese nicht allzu breite Straße einer der wichtigsten Wege vom Rheinufer hin zur inneren Stadt. In der Rheingasse ließen sich gute Geschäfte machen, hier erhielt man vielleicht einige Stunden vor allen anderen Mitbürgern die neuesten Nachrichten, die mit den Schiffern über den Strom herankamen.

Wo Händler, Reisende und Beamte täglich hindurch mussten, siedelten sich Handwerker jeder Zunft an; Arbeit gab es hier mehr als genug. Und weil das Flicken, Knüpfen, Schmieden Hunger bereitete und dazu einige Adelshöfe gute Aufträge zu vergeben hatten, waren Bäcker, Metzger und Gastwirte nicht fern.

Bis 1944 hielten sich die ältesten Gasthäuser Bonns in der Rheingasse, die unter verschiedenen Namen von 1535 an reichlich Besuch hatten. Erwünschten ebenso wie unerwünschten: Durch diese Gasse ritten die bewaffneten Anhänger Gebhard von Truchsess’ ebenso wie in schöner Regelmäßigkeit Soldaten aus Frankreich, Schweden und den Niederlanden und hinterließen zerstörte Häuser und menschliches Leid.
Aber womöglich flanierte auch Casanova in Maske und Domino hier entlang, als er auf dem Weg war, den Kurfürsten zu einem Abendessen zu treffen, bestimmt ging Goethe hier hindurch und Hans Christian Andersen sowieso, vielleicht fand auch Clara Schumann die Zeit, hier Abwechslung von der Pflege des kranken Ehemanns zu finden – an der Rheingasse war kein Vorbeikommen.

Erst recht nicht, als im 19. Jahrhundert die Begeisterung für das Mittelalter und das vermeintlich urtümlich Deutsche hochschwappte, denn diese Gasse war die Essenz dessen, was man unter Rheinromantik und Alt-Bonn verstand: Eng gedrängt säumten mittelalterliche Fachwerkhäuser und barocke Gebäude den Weg, ragten zumindest drei, manchmal vier und sogar fünf Stockwerke auf und boten noch immer Platz für Kunst, Handwerk und Gastreundschaft.
Hier wohnten gutsituierte Witwen, erfolgreiche Handwerksmeister, Kleinfabrikanten, Arbeiter, Näherinnen und Wäscherinnen; wer wirklich wohlhabend war, suchte anderswo in der Stadt eine Bleibe, denn der Rhein stieg regelmäßig hoch an und bescherte nasse Füße. Deshalb vielleicht war es so vielen Handwerksfamilien möglich, die zunächst gemieteten Häuser bald zu kaufen. Hier und in den umliegenden Straßen (Gier-, Mühlen- und Kallengasse) hatte sich über die Jahrhunderte hinweg ein fleißiges Kleinbürgertum etabliert.

Ruhe herrschte in der Rheingasse vermutlich selten einmal: In den Hinterhöfen waren Backstuben, Werkstätten und Biergärten untergebracht, nach vorne hinaus wurde gehandelt und verkauft und um Gäste gebuhlt. Ruhe wurde vermutlich noch kostbarer, nachdem die Bonner Universität gegründet worden war. Die wurde vom Preußenkönig mit viel Geld und Unterstützung versehen, was ihr sehr gute und moderne Professoren einbrachte und damit viele, viele Studenten bescherte. Junge Männer, die neben der Paukerei genau nach den Dingen suchten, die die Rheingasse zu bieten hatte: gemütliche Kneipen, Wein und Gesang. Manch ein Gastraum war regelmäßiger Versammlungsort der vielen Burschenschaften Bonns.

Um 1900 herum hatte sich das noch lange nicht geändert. Im Gegenteil. Mit den besseren Verkehrsmitteln trafen noch mehr Gäster in der reichen Stadt am Rhein ein. Jetzt liefen tagaus, tagein die Vergnügungsreisenden durch die alte Straße. Wer vom Bahnhof zu den Landungsstegen wollte, vom Schiff auf den Zug zu wechseln hatte, kam hier vorbei, hielt ehrfürchtig vor der Nummer sieben – dem Wohnhaus der Familie Beethoven – inne, summte womöglich die Fünfte Sinfonie und eilte weiter dem nächsten Ziel zu, sicherlich froh, die malerische Straße bewundern zu dürfen, ohne in ihr leben und arbeiten zu müssen.