Das Bonn der Jahrhundertwende


Das Projekt, für das ich mit ganz viel Glück das Stipendium von Neustart Kultur erhalten habe, bringt mich dazu, ganz tief einzusteigen in die Recherche; bislang habe ich ein kleines Vermögen für antiquarische Bücher, Schriften und Magazine ausgegeben, die größtenteils aus den Jahren 1890-1910 stammen.

Das erste Thema war das Leben der Dienstboten in dieser Zeit, wobei die männlichen Hausangestellten zu vernachlässigen sind; sie stellten keine zehn Prozent mehr. Es waren vor allem junge Frauen, Mädchen sogar, die in diesem Bereich tätig waren. Aber dazu gerne ein anderes Mal mehr.

Das zweite Thema ist meine Heimatstadt, in der Hedwigs Geschichte zum Großteil spielt. Es ist ein Bonn, das sehr, sehr anders aussah als das, was wir heute kennen. Natürlich gibt es einige Plätze und Straßen, in denen wir noch eine gute Vorstellung davon haben, wie es damals aussah, aber wenn es um die Altstadt geht, die vom heutigen Bertha-von-Suttner-Platz bis zur Beethovenhalle auf der einen Seite und dem Alten Zoll auf der anderen Seite reichte, dann finden wir so gut wie nichts mehr vor, was es damals noch gab. Das liegt nicht nur an dem großen Bombenangriff 1944, der diesen Bereich fast komplett zerstört hat, sondern auch an der regen Bau- und Modernisierungstätigkeit während der Gründerjahre.

Wie wäre es mit einigen Fakten?

Bonn war um 1900 eine der reichsten Städte in Preußen: Das für die Steuer geschätzte Vermögen der Einwohner lag bei 514,6 Millionen Mark – das wären heute etwa 3,6 Milliarden Euro. Im Vergleich dazu: Bochum war größer und hatte mehr Industrie im Stadtgebiet, doch hier lag das steuerliche Gesamtvermögen bei nur 116,4 Millionen. In Bonn lebten zur Jahrhundertwende etwa 80 Millionäre, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs erhöhte sich diese Zahl auf über 150, wobei vermutet wird, dass es zumindest 200 gewesen sein dürften – auch damals mauschelten manche ganz ordentlich, wenn es um die Steuer ging.

Doch nicht nur Millionäre sorgten für den Reichtum der Stadt; im Schnitt lag das Jahreseinkommen in Bonn bei knapp 5.000 Mark, im Berlin zum Vergleich bei nur 2850. Bonn war bei Rentiers – also Personen, die nicht mehr arbeiten mussten und dennoch genug Geld zum Leben besaßen, egal welchen Alters – sehr beliebt. Das milde Klima, die schöne und romantische Landschaft, die sehr gute Universität und die vielen Hotels, Restaurants, Kneipen und Kaffeehäuser luden zum Verreisen und Bleiben ein.

Dazu warb die Stadt intensiv um neue, vermögende Bürger. Erfolgreich, denn im wilhelminischen Preußen war es dem Großbürgertum, dem Adel und allen, die aufsteigen wollten, sehr daran gelegen, in der Nähe des Kaisers zu sein. Und der war mitsamt seinen Söhnen gerne und oft in Bonn, wo man ihm vielleicht leichter über den Weg laufen konnte, zumal Prinzessin Friederike Amalia Wilhelmine Viktoria von Preußen, verheiratete Schaumburg-Lippe und Schwester des zweiten Wilhelms, in Bonn lebte. Sie liebte Bonn und war ihrerseits bei der Bevölkerung sehr beliebt.
Um das Palais Schaumburg hatten sich einigen Paläste und Herrschaftsvillen angesammelt, aber ebenso fand sich inmitten diese Viertels die Porzellanfabrik Mehlem – was für Bonn seltsam typisch war. Adel, Reichtum, Glanz und Industrie eng an eng unmittelbar am Rhein gelegen, das ging ziemlich lang ziemlich gut.
(Sowohl Viktoria wie auch die Porzellanfabrik haben mich schon einmal beschäftigt – siehe Der letzte Tanz für Viktoria und Zoubkoff, ihrem zweiten Mann, und Der Tod im Aktenschrank für die Porzellanfabrik).

Der technische Fortschritt war in Bonn über Jahre hinweg flott unterwegs; auch das brachte sicherlich neue Bürger und Bürgerinnen mit genügend Geld, das in den vielen guten Geschäften rund um Markt- und Münsterplatz leicht ausgegeben werden konnte.
Auch die Universität, die Städtischen Schulen mit neuen Lehransätzen und die vielen, vielen Töchterpensionate lockten erfolgreich immer mehr Einwohner und Einwohnerinnen indie Stadt am Rhein; entsprechend wurde gebaut, abgerissen, neu gebaut – man war oft leicht dabei, mittelalterliche Gebäude aufzugeben, wozu sicherlich die mitunter prekäre Wohnsituation der Ärmsten beitrug: In vielen Teilen der alten Stadtmauer und in einigen der Türme und Ruinen lagen einfache Räume, kalt, feucht und zugig, in denen diejenigen hausten, die nicht vom Fortschritt profitierten.

Was allerdings sehr vielen Bonnern und Bonnerinnen am Herzen lag. Es gab einige Vereine, die sich um ledige Mütter, gefallene Mädchen, versehrte Veteranen, Waisen, Witwen und wer immer sonst in eine Notlage geraten war, kümmerten. (Hier darf gerne nach Berta Lungstras gegooglet werden, die mit ihrem Tun Schule machte.)
Auch der Rat der Stadt Bonn ging das Problem der sozialen Gerechtigkeit an. Etwa 10% des Etats gingen ins Sozialwesen, was im Vergleich zu späteren Jahrzehnten zwar gering erscheint, doch im Vergleich zu anderen preußischen Stadten mit mehr Unterstützungsempfängern beträchtlich war. Da hier weniger Bedürftige lebten, kamen ihnen diese Zuwendungen spürbar zugute. Es wurde mit dem Geld für die Ausgabe sehr billiger Kohle gesorgt und ebenso wurden für die Armen die Kosten für Grundlebensmittel niedrig gehalten, es wurden Obdachlosenasyle, Mütterberatungsstellen und alle möglichen Anstalten für Gesundheit und Erholung eingerichtet, sogar an die Ferien für Kinder und Jugendliche wurde gedacht.

Die Stadt Bonn entwickelte sich also prächtig, was sich schlagartig mit dem Beginn des Krieges endete. Woran um 1900 noch nicht zu denken war; man war durchaus kosmopolitsch, war man doch das Ziel viel Reisender; besonders aus England kamen viele Touristen, die das Rheinpanorama zu sehen wünschten und den Spuren einiger bekannter Schriftsteller folgten. (So zum Beispiel auch die Caradocs, die Queen Victorias Reiseroute folgten in Das Geheimnis der Brüder Tengye). In diese Stadt also zieht es auch Hedwig Vianden, um als Dienstmädchen ein neues Leben zu beginnen.
Im Augenblick bin ich dabei, die Rheingasse zu rekonstruieren. Mit der heutigen Straße hat sie nur noch den Namen und die ungefähre Lage gemein; um 1900 war die Gasse ein lebendiger Mittelpunkt. Aber dazu werde ich demnächst mehr erzählen – zum einen im Roman, zum anderen hier mit einigen Bildern.