Zwei Jahre nun


Morgen vor zwei Jahren ist mein Vater gestorben – 26 Tage, nachdem ich frühmorgens von seinem Arzt erfuhr, wie es um ihn steht. 26 Tage waren sehr wenig Zeit, um überhaupt zu verstehen, was passiert. Noch viel weniger Zeit ist es, wenn zwei Tage nach dieser Botschaft dein Vater dich bittet, einen Platz zum Sterben für ihn zu suchen, während du am Tage zuvor noch zaghaft so etwas wie eine Hoffnung aufkeimen ließt. Vier Tage vergingen im Kampf mit einer bornierten und wenig empathischen Jungärztin; vier weitere bis zur Verlegung in das Krankenhaus in unserer Nähe und noch einmal drei Tage bis zu seiner Verlegung in die Palliativstation. Eine gute Woche lang, bis zu Tommys Einschulung, war mein Vater noch gut ansprechbar und gesprächsbereit, aber seine körperlichen Möglichkeiten nahmen fast stündlich ab. Nachdem er Tommy nachmittags noch zu seinem neuen Status gratulierte, ging es immer schneller zu Ende. Schneller als ich oder wir alle gedanklich hinterher kommen konnten. Es erschien mir während des Tuns normal und selbstverständlich und doch seltsam irreal, dass ich meinem Vater Beine und Gesicht massierte, ihn mit Eis fütterte; wirklich an mich herangelassen habe ich die Situation wohl nur selten – meist, wenn ich einmal alleine war und dann weinend zusammen brach.

Das Irreale ist bis heute geblieben: es scheint, als sei all das in einer anderen Dimension geschehen, einer, die mit meinem Leben gar nichts zu tun hat. Das Gefühl wird von unserer Welt, wie sie so langsam an allen Ecken zusammen zu brechen scheint und in Unmenschlichkeit und Perversion untergeht, wahrscheinlich gefördert. Das sind so die Gedanken, die in schlaflosen Nächten der letzten Monate über mich hinwegschwemmen, halbgeträumt, halbgefürchtet, nie ganz da und doch leider nie ganz weg.

Aber was hat sich nach zwei Jahren verändert? Die Taubheit der ersten Monate, die Depression im ersten Halbjahr sind lange vorbei und machten dann Platz für Trauer und Wut und Ärger und immer noch Verständnislosigkeit, mit einem immer noch den Geschehnissen weit hinterher hinkenden Verstand. Dann war das erste Jahr herum und alles war schon einmal erlebt worden: die ersten Geburstage, das erste Weihnachten und Silvester, der erste Frühlingstag ohne Papa. Und all diese Tage kamen zum zweiten Mal zurück ohne ihn. Wie unfassbar mir das dann vorkam: wirklich schon das zweite Mal? Und die Trauer schien gar nicht geringer zu werden. Bis sie nicht mehr in jeder Minute des Tages unter allem, über allem lag.

Mit ihrem (scheinbaren) Verschwinden kam das schlechte Gewissen, ein vages Schuldgefühl. Meist saß ich im Auto und unerwartet fiel mir mein Vater ein, das Füttern, das Zimmer. Immer noch murmelte die kleine Stimme, dass das alles gar nicht geschehen sein könne, das sei nur eine traurige Geschichte, die sich eine Schauspielerin zurecht gelegt hatte, um am Set auf Kommando weinen zu können. Und sofort fragte die weniger kleine Stimme, ob ich denn wohl am Ende gar nicht mehr traurig sei, ob ich nicht ein schlechter Mensch sei, dass ich tagelang nicht an meinen Vater gedachte habe? All das in einer Viertelsekunde …

Und immer, immer über Monate hinweg schlug es dann über mir zusammen: doch, es geht dir noch genauso dreckig, du willst nur einfach nicht ständig und immer und überall flennen und heulen und weinen. Du kannst es einfach nicht mehr ertragen, traurig und elend zu sein, diese immer gleichen Bilder vor Augen und die immer gleiche Fragen, ob ich irgendetwas anders hätte machen sollen oder müssen.
Von da an begann ich immerhin, die Realität ganz und gar zu akzeptieren und nun, seit etwa drei Monaten, geht es mir besser. Ich nehme mir die Zeit, traurig zu sein, zu weinen und mich dem Geschehenen zu stellen, aber es ist nicht mehr der Gedanke, der immer über allem und unter allem liegt.