Düstere Freundschaft


Miss Beaumont ahnt nicht, dass sie sofort in ihren zweiten Mordfall gerät, als sie nach Yorkshire reist, um einer Miss Catherine Crawford zu einer Garderobe zu verhelfen, mit der ein vermögender Ehemann zu finden sein sollte …

In London

Die Glocken von St. Giles in the Field ertönten laut und klar. Ich stöhnte auf; der erste Tag des Septembers war gerade einmal zwei Stunden alt und mir doch schon verhasst. Der leichte Sprühregen hatte Hose und Gehrock bald vollständig durchnässt, das Wasser stand in meinen Schuhen und ich fror erbärmlich. Der Spätsommer in all seiner Schönheit war ebenso an sein Ende gekommen wie mein vermessener Traum von Liebe und Glück.
Aber trotzdem dachte ich noch immer an kaum etwas anderes als an Hamishs Worte und seine Küsse. Ich sehnte mich nach ihm, wie ich mich nie zuvor nach irgendetwas gesehnt hatte. Schäbig und dumm war das! Vielmehr sollte ich an seinen Blick denken, als er begriff, wer da vor uns erschienen sein musste! Wie verletzt er nun wohl war, wie bitterlich enttäuscht von mir und meinen Lügen!
Lügen?
Gelogen hatte ich nicht; es besteht ein erheblicher Unterschied zwischen einer Lüge und dem Verschweigen einer Wahrheit, von der ich selbst doch nichts gewusst hatte! Wie hätte ich ahnen können, dass nach all den Jahren Alexandre zurückkehren würde? Er war wahrhaftig auferstanden von den Toten …
War es da ein Wunder, dass ich den Kopf verloren hatte und wortlos davon geritten war im gestreckten Galopp? Es war nicht länger nur eine Redensart, wenn ich meinte, der Teufel wäre hinter mir her. Er war es leibhaftig! Ich hatte fliehen müssen, denn es ging nicht nur um mich: Früher oder später würde ich alle in Gefahr gebracht haben, wäre ich geblieben. Die Vorstellung, es könnte Elsie ein Leid zustoßen oder Violet oder Hamish …
Ich hatte richtig gehandelt. Was hätte ich auch sagen sollen, was hätte ich tun können? Mit Alexandre reden? Ihn bitten, uns in Ruhe zu lassen? Um Gnade betteln und die reuige Sünderin spielen?
Oh bitte, ich bin gewiss eine Schauspielerin von einigem Talent, aber Alexandre glauben zu lassen, es täte mir leid, was ich ihm angetan hatte, ging weit über jedes Talent hinaus, das ich zu besitzen mich rühmen durfte. Und selbst, wenn mir das gelungen wäre, so hätte doch er ein wahrer Engel sein müssen, um mir Vergebung zu gewähren.
Fast musste ich lachen bei der Vorstellung, wie Alexandre sich mit gütiger Miene über mich beugt und behauptet, es mache ihm nichts aus, dass ich ihn ermordet habe; es gäbe in jeder Ehe gelegentliche Missverständnisse.
Doch selbst wenn Demut und flehentliche Bitten einen Sinn ergeben hätten, so war mir der Gedanke an ein solches Verhalten nicht gekommen. Alexandres Stimme hören und meine Stute wenden, das war zugleich geschehen. Ich war geflohen, so schnell es nur ging, wohlwissend, dass ich nur dann davon käme, wenn Hamish MacRow es trotz seiner Enttäuschung auf sich nähme, meinen ärgsten Feind aufzuhalten und mir einen Vorsprung zu verschaffen. Einen Vorsprung, der ausreichen musste, Elsie und Phips zu warnen, mit ihnen aufzubrechen und über einen weiten Umweg nach London zu hetzen.
Und sobald ich daran dachte, dass Hamish genau das getan haben musste, dann wollte ich eben doch wieder an Glück und Liebe glauben. Dann sagte ich mir, dass er mich womöglich verstand und sein erstaunter Ausruf, sein verblüffter Blick – ja, dass sie nicht bedeuten mussten, er fühle keine Zuneigung mehr zu mir.
Vier Tage waren seither vergangen und es kam mir vor, als läge ein ganzes Leben zwischen unserem Ausritt und meiner jetzigen Hast durch Seven Dials. Bis gestern schwebte ich in der größten Sorge, es könnte Alexandre Hamish etwas angetan haben. Ja, nicht eine Stunde hatte ich seit meinem Aufbruch geschlafen; immer nur für Minuten schlummerte ich vor Erschöpfung ein, bis Vater mir vor einigen Stunden mitteilen ließ, es wäre Dr MacRow am Leben.
Vielleicht begriff ich bei dieser Mitteilung erst wirklich, wie sehr ich Hamish liebe. Es nutzt ja nichts, mir immer wieder zu sagen, dass wir uns kaum kennen; nicht einmal zwei Wochen ist es her, dass ich auf Darnwell Hall eintraf und ihm begegnete. Oh bitte, ich weiß sehr wohl, dass Ehen in der guten Gesellschaft oft genug bereits nach einem einzigen gemeinsamen Tanz beschlossen werden. Doch wenn ich von Hamish und mir spreche, dann spreche ich nicht von einer arrangierten Beziehung, die dem Geldbeutel mehr nutzt als dem Herzen oder dem Verstand. Ich bin nicht eine jener glücklichen Frauen, die das Gute sehen in allen Menschen und sich leicht verlieben können, wenn einer nur zuvorkommend ist und gebildet genug, sich klug ausdrücken zu können. Dass ich mein Herz an einen Mann verschenkt habe, ist mir noch immer ein Wunder. Dass ich es tat, noch bevor ich überhaupt wusste, wie aufrecht und verständnisvoll Hamish ist, erschreckt mich.
Ja, ich muss zugeben, dass ich noch immer hoffe, was doch selbst unter günstigeren Umständen kaum denkbar wäre: Dass er und ich zusammenfinden in einer Weise, die sowohl die Gesellschaft wie auch uns zufriedenstellt. Was kaum zu bewerkstelligen sein kann. Die Unterschiede in Stand und Ansehen sind schon groß genug, dass ich aber zum einen nicht mehr heiraten möchte und zum anderen noch immer verheiratet bin …
Was bleibt da noch zu hoffen übrig? Aber was mein Verstand weiß, will mein Herz nicht einsehen. Und vielleicht brauche ich diesen Traum, um das hier durchzustehen?
Ich rannte durch die Queen’s Road, die endlich nahezu verlassen und in ungefährer Stille in der Dunkelheit lag. Aus den Pubs drangen noch immer schiefe Gesänge, betrunkenes Gelächter und gemeine Streitereien, doch waren es nur wenige Gäste, die für diesen Lärm sorgten. Auch Armut, Krankheit und Unsitte kommen irgendwann zur Ruhe. In mehr als einem Hauseingang hatten sich Menschen zum Schlaf niedergelegt, manche gemeinsam, die Hände ineinanderverschränkt, mitunter ein kleines Kind zwischen ihnen, andere im Suff zusammengesackt und mehr tot als lebendig anzusehen. Und je kälter und nasser die Nächte werden würden, desto öfter würde mancher nicht mehr mit dem Morgen erwachen.
Schneller lief ich; auch als Mann verkleidet war in Seven Dials meine Sicherheit nicht garantiert. Um die Ecke bogen jetzt zwei Kerle, groß und breit und berauscht von billigem Fusel und wer weiß was noch. Eine Fackel trug der Dickere bei sich und im Schein des Feuers glaubte ich, Blut auf seiner Kleidung zu erkennen. Es kostete mich einiges, nicht umzudrehen und fortzulaufen. Klug wäre das in den seltensten Fällen; allzu leicht mochte sich ein von Natur aus brutaler Mensch dadurch herausgefordert fühlen und mir nachsetzen.
Ich lächelte schief und strich über meinen angeklebten Schnauzbart; ein spärliches Bärtchen war es, das wesentlich echter wirkte, als wenn ich ein prächtigeres Modell gewählt hätte, das von meinen weichen Zügen abstach. Scheinbar bester Laune raste ich weiter voran, direkt auf die beiden Männer zu. Ich grüßte mit einem lauten ‘Hey’ und wollte mich an ihnen vorbeidrücken, da streckte der Längere den Arm aus und hielt mich an der Schulter fest. Taumelnd beugte er sich an mein Ohr und fragte lallend, wohin ich kleines Bürschlein denn so eilig unterwegs wäre.
Ich grinste. “Die Liebste wartet.”
“Ha! So ein Grünschnabel und hat schon eine Liebste. So ist es recht! Besorg es ihr nur ordentlich, dass sie dir treu bleibt. Oder sollen wir mit dir kommen und zeigen, wie’s geht?”
“Das schaffe ich schon, besten Dank.”
“Haste gehört? Das schafft er schon! Dann lauf los, Kleiner, und zeig ihr, was’n echter Kerl ist.”
Der andere lachte dreckig und meinte, er sollte auch zusehen, noch irgendwo ein Täubchen aufzutreiben. Grölend zogen sie weiter und ich sah zu, dass ich endlich fortkam aus dieser Hölle, in der ich mich seit meiner Rückkehr nach London versteckt hielt. Hier würde mich Alexandre weder finden noch suchen; ihm sah man den französischen Aristokraten stets an und ein solcher würde hier im besten Fall auf Schweigen treffen.
Fast wünschte ich, er käme her; mochte gut sein, dass er diesen Ort nie wieder verlassen würde.